: Wenn die Stadt das Erbe antritt
■ Immer mehr Berliner schlagen Erbe aus Angst vor hinterlassenen Schulden aus. So fließen zwischen fünf und zehn Millionen Mark jährlich in die leeren Stadtkassen
Karl Kleber* hat Post vom Nachlaßgericht bekommen. Tante Frieda ist gestorben. So richtig traurig ist Kleber nicht. Denn seit Jahren hat er die über sieben Ecken Verwandte nicht gesehen. Ob die alte Dame ihm mit ihrem Ableben einen unverhofften Geldsegen beschert oder zu einem Anwachsen des eigenen Schuldenberges beiträgt, weiß er nicht. Das Nachlaßgericht teilt ihm nur mit, daß er erbberechtigt ist und daß er sechs Wochen Zeit hat, zu entscheiden, ob er die Erbschaft antreten oder ausschlagen will. Anderthalb Monate schwankt Kleber zwischen der Hoffnung auf Erfüllung seiner Träume und unbezahlten Rechnungen der Tante. Nach vielen schlaflosen Nächten entscheidet er sich, lieber die Finger von der Erbschaft zu lassen. Daß Tante Frieda einen prallen Sparstrumpf hinterlassen haben könnte, kann sich Kleber nicht vorstellen.
Wenn doch, reibt sich die Finanzverwaltung die Hände. Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch gehen Vermögen ohne Erben automatisch an den Fiskus. Auf diese Weise erhält die Stadt pro Jahr zwischen fünf und elf Millionen Mark. In den letzten Jahren sind die Erbschaftsfälle ohne Erben kontinuierlich gestiegen. Waren es 1992 noch 786 sogenannte Fiskalerbfälle mit Einnahmen von insgesamt 5,2 Millionen Mark, ist deren Zahl 1995 auf 1.167 angewachsen. Das brachte der finanzschwachen Stadt satte 7,41 Millionen Mark, die als „allgemeine Deckungsmittel“ in den Landeshaushalt fließen. Im vergangenen Jahr waren es sogar über 10 Millionen Mark aus 1.013 Todesfällen ohne Erben.
Finden die Nachlaßpfleger niemanden, den sie, wie im Fall Kleber, anschreiben können, und liegt ein Verdacht vor, daß es doch irgendwo einen Erbberechtigten gibt, tritt in Abstimmung mit dem Nachlaßgericht ein Genealoge auf den Plan. Nach Angaben von Notarin Marina Coesfeld dauert es manchmal Jahre, bis die Forscher des Ursprungs, der Folge und Verwandtschaft der Geschlechter fündig werden. Doch manch Ahnenforscher habe bei seiner Suche „in uralten Kirchenbüchern in Polen“ dann doch das gewünschte Ergebnis gebracht.
Ganz einfach sind die Fälle, in denen Leute Schulden hinterlassen, für die keiner aufkommt, weil keiner das Erbe antritt. Dann gucken Gläubiger wie Vermieter, Privatiers oder die Bewag in die Röhre. Nach Auskunft von Notarin Marina Coesfeld ist es „sehr unwahrscheinlich“, daß in solchen Fällen erneut ein Nachlaßpfleger eingesetzt wird. Also profitiert die Stadt von der Unsicherheit der Erbberechtigten und streicht den unerwarteten Geldsegen ein, ohne jedoch für unbezahlte Rechnungen aufkommen zu müssen. „Die Stadt erbt ja keine Schulden“, so Notarin Coesfeld. „Das ist das Positive.“
Als Plus kann die Stadt auch jene Erbschaften verbuchen, die ihren staatlichen oder privaten Einrichtungen ganz gezielt vermacht werden. So gingen 1992 knapp zwei Millionen Mark aus 102 testamentarischen Erbfällen an Jugendeinrichtungen, den Zoo, das Tierheim oder behinderte Jugendliche. 1993 hinterließen 94 Berliner insgesamt 7,3 Millionen Mark, die Waisenkindern, der Feuerwehr oder Museen zugute kamen. Im vergangenen Jahr vermachten 83 Berliner insgesamt 2,2 Millionen Mark an Erben ihrer Wahl. Barbara Bollwahn
* Name geändert
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