: Vom Fegefeuer in die Gegengerade
■ Ihre Hymne „You'll Never Walk Alone“werden die St.-Pauli-Fans heute abend singen, wenn es bei der Heimspiel-Premiere gegen Gütersloh geht. Die Geschichte des inoffiziellen Vereinsliedes
Auf den heutigen Abend freuen sich die Fans des FC St. Pauli ganz besonders. Nicht nur, daß um 19 Uhr das erste Heimspiel dieser Saison gegen Gütersloh angepfiffen wird. Endlich ist wieder Gelegenheit, im Wilhelm-Koch-Stadion die inoffizielle Vereinshymne „You'll Never Walk Alone“(„YNWA“) zu schmettern.
Ende der 80er hielt das Stück am anglophilen Millerntor Einzug. Wie das kam, können selbst alteingesessene Gegengeraden-Besucher nicht genau sagen. Doch spätestens seit der 94er-Aufnahme der Hamburger Punkband The Rubbermaids gehört „YNWA“zum FC-Pflichtprogramm. Aber so verbreitet das Stück ist, so wenig wissen die meisten über dessen Herkunft.
Als Gerry & The Pacemakers 1963 „YNWA“sangen und die Fans des FC Liverpool den Song als Vereinslied übernahmen, begann der Siegeszug des hymnischen Stücks in der Fußballwelt. Die „YNWA“-Geschichte ist jedoch fast zwei Jahrzehnte älter.
Am 19. April 1945 sangen Jan Clayton und Christine Johnson im New Yorker Majesty Theatre „YNWA“anläßlich der Uraufführung des Musicals Carousel. Der US-amerikanische Komponist Richard Rodgers schrieb die Musik, sein Partner Oscar Hammerstein den Text. Das US-Duo verarbeitete das düstere Vorstadtschauspiel Liliom des Ungarn Ferenc Molnár zum Broadway-kompatiblen Gemischtwetterladen. Davon zeugt auch der „YNWA“-Text (siehe unten): Sturm, aber auch ein goldener Himmel mit dem Gesang einer Lerche.
Das Musical ist eine 1873 in Neuengland spielende Opfergeschichte mit einem Schuß Seefahrerromantik. Karussellausrufer Billy liebt Fabrikarbeiterin Julie – aber sie wird schwanger, er arbeitslos. Durch Geldnot auf kriminelle Pfade geführt, entzieht sich Billy seiner Festnahme durch Selbstmord.
Als er nach 15 Jahren Fegefeuer für einen Tag zurück auf die Erde darf, geht alles daneben: Billy schlägt seine Tochter Louise, weil sie sein gestohlenes Geschenk nicht annehmen mag. Am Ende wird aber alles gut: Louise spürt keinen Schmerz, ihre Mutter ahnt den guten Willen, und der Schläger akzeptiert seine Rückkehr ins Fegefeuer, weil er weiß, daß Julie und Louise auf Erden glücklich werden.
„YNWA“ist eine Predigt für den Gang durchs Fegefeuer: „Kopf hoch, Billy.“Inspirieren ließ sich auch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den Sixties. Die Jazz-Sängerin und Civil Rights-Aktivistin Nina Simone interpretierte das Stück, auch Louis Armstrong nahm es auf. Die Jazz-Ikonen sind nicht allein. Seit dem Erfolg von Carousel ist die Viervierteltakt-Hymne ein Standard.
Der erste bekannte „YNWA“-Interpret war Frank Sinatra, der bereits am 5. Januar 1945 – also noch vor der Uraufführung des Musicals Carousel-– seine Fassung aufnahm. Von Streichern eingeleitet, steht am Schluß ein sachter Piano-Ausklang.
Das Soul-Duo The Righteous Brothers („Unchained Melody“) ist dagegen mit Bombast-Chor nebst Kirchenglocke nicht zu ertragen. Nicht das einzige Beispiel, wie hymnisch mit bombastisch verwechselt wird. Auch Shirley Bassey („Goldfinger“) glaubt, daß einem pompösen Orchester das Finale gehört, anstatt den Takt sanft ausklingen zu lassen.
Besser halten sich die Tenöre Mario Lanza und Placido Do-mingo. Lanzas Stimme harmoniert vortrefflich mit der Orchestrierung, selbst das heikle Einflechten von Kirchengeläut stört nicht. Bei Domingo kreuzen sich hartes Timbre und Pidgin-English in hörenswerter Weise.
Volksnah zeigt sich die Rock-Band Slade („My Oh My“). Auf einem Live-Album gibt Sänger Noddy Holder eine 35 Sekunden kurze Umtextung von „YNWA“zum Besten, die den hoffnungsfrohen Inhalt des Liedes in eine Haßtirade verwandelt.
Aus einem traurigen Anlaß nahm das eigens zusammengestellte Starensemble The Crowd 1985 „YNWA“auf – als Benefizplatte zugunsten der Opfer im Fußballstadion von Bradford. Die Liste der weiteren Interpreten ist Legion: The Lightning Seeds („Three Lions – Football Is Coming Home“), Tom Jones, Engelbert, die Isley Brothers und viele mehr.
Die süßsilbrige Stimme einer singenden Lerche, wie sie der Text von „You'll Never Walk Alone“verheißt, ist jedoch nirgends zu hören. Aber beim Fußball dauert das Fegefeuer ja auch nur 90 Minuten und keine 15 Jahre. F. Havekost/C. Gerlach
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen