: Die Angst vorm Absturz spielt mit
Nach dem letzten Abstiegsdebakel jahrelang verhöhnt, nun getragen von einer Euphorie-Welle: Aufsteiger Hertha BSC startet gegen Borussia Dortmund in die neue Saison ■ Von Jürgen Schulze
Hertha-Trainer Jürgen Röber ist dünnhäutiger geworden. „Eine dämliche Frage“, herrschte Röber kürzlich sein verdutztes Gegenüber an. Dabei wollte der Journalist nur wissen, weshalb es im (gewonnenen) Testspiel gegen die unterklassige Kölner Fortuna anfangs nicht wie gewünscht lief. Diese Szene spricht Bände über Röbers derzeitige Verfassung. Er weiß, daß das grassierende Bundesligafieber an der Spree – angeheizt durch die täglich mehrseitige Berichterstattung in der Boulevardpresse – ins schier Unerträgliche steigt.
Bereits über 13.000 Dauerkarten setzte die Geschäftsstelle in der Hanns-Braun-Straße in Charlottenburg bis Mitte Juli um. Zum Vergleich: Vor sieben Jahren, in der letzten erstklassigen Spielzeit der Blauweißen, gingen gerade mal 2.000 Tickets über den Tresen der damals von Computern noch völlig verschont gebliebenen Kommandozentrale.
Inzwischen hat auch bei der „alten Dame“ Hertha High-Tech Einzug gehalten. Ein sichtbares Zeichen für die Aufbruchstimmung. „Bis zum Jahr 2000 wollen wir im Europa-Cup mitspielen“, gibt der Coach als Devise aus.
Seine Zukunftsvision deckt sich mit den Vorstellungen des Marketing-Partners Ufa: Jahrelang mußten die Bertelsmänner Abermillionen Mark in den Verein buttern, um das „Fußball-Flaggschiff“ vorm Untergang zu retten. Jetzt haben die Konzern-Verantwortlichen mit Röber endlich ein sportliches Pendant gefunden, der Corporate identity mit Erfolg zu verbinden weiß.
Wer will es den vielen ausgehungerten Hertha-Fans verübeln, daß sie „ihrem“ Verein jetzt die Bude einrennen? Das letzte Gastspiel der – in Ost und West – unumstrittenen Nummer eins des hauptstädtischen Fußballs (1990/91) liegt, gemessen an der schnellebigen Ballbranche, schon Lichtjahre zurück und endete mit einem sportlichen wie finanziellen Fiasko. Nach nur einjährigem Gastspiel stieg Hertha sang- und klanglos ab.
Viele Stadiongänger wandten sich enttäuscht von ihrem Verein ab. Für den harten Kern der Getreuen folgte eine sechsjährige Tragödie in der 2. Liga, gespickt mit nicht enden wollenden Fahrten in dörfliche Hochburgen wie Meppen, Gütersloh oder Homburg/ Saar. Die Musik spielte ganz woanders...
Damit soll am kommenden Sonntag, Punkt 18 Uhr, ein für allemal Schluß sein, wenn zum Bundesliga-Auftakt Borussia Dortmund, die derzeit beste Vereinsmannschaft Europas, im Olympiastadion antritt. „Nie mehr zweite Liga“, skandieren die Hertha-Fans inzwischen sogar beim Training an der olympischen Arena.
Röber hört es gerne – und trotzdem zuckt er unweigerlich zusammen. Er kennt die erbarmungslosen Usancen im harten Trainergeschäft zu genau.
Seinen letzten Arbeitsplatz beim VfB Stuttgart mußte der 44jährige frühere Profi von Bayern München und Werder Bremen vorfristig räumen – nicht etwa, weil der sportliche Erfolg ausgeblieben war, sondern weil er mit dem selbstherrlichen VfB-Präsidenten Mayer-Vorfelder, zugleich Finanzminister Baden-Württembergs, aneinandergeriet.
„Ich mache mir nichts vor, nach fünf, sechs Niederlagen in Folge bin ich weg vom Fenster“, meint das „gebrannte Kind“ mit Blick auf sein Berliner Engagement. Immerhin kann der Trainer schon jetzt von sich behaupten, die Spree-Metropole, diesen „schlafenden Fußball-Riesen“ mit einem Einzugsgebiet von fünf Millionen Menschen, zu neuem Leben erweckt zu haben. „Als ich nach Berlin kam“, erinnert sich der gebürtige Westfale an seinen Dienstantritt im Dezember 1995, „da warnten mich Freunde vor Hertha. Dieser Verein war wie eine Krankheit, mit der niemand was zu tun haben wollte.“
Aus dem belächelten Loser wurde ein Hoffnungsträger, der die Bundesliga-Konkurrenz nervös macht. „Hertha könnte uns gefährlich werden“, befürchtet sogar Uli Hoeneß, Manager des Klassenprimus Bayern München.
Diese Vorschußlorbeeren will die Hertha-Führung sorgsam hegen und pflegen. Zuviel steht auf dem Spiel, als daß man Fitneßfanatiker Röber nicht jegliche Rückendeckung zuteil werden ließe, um ihm ein ähnlich traumatisches Erlebnis wie seinen insgesamt vier (!) verschlissenen Trainerkollegen von 1990/91 zu ersparen. 25 Millionen Mark, soviel wie nie zuvor in der Vereinsgeschichte, investierte der Klub in das bevorstehende Unternehmen Bundesliga 97/98.
Statt zu kleckern – einem der Hauptfehler nach dem Mauerfall – wurde diesmal auf dem Transfermarkt mächtig geklotzt. Rund zehn Millionen Mark gaben die Berliner für neue Spieler aus: Die Holländer Bryan Roy (Nottingham) und Dick van Burik (Utrecht), die beide aus dem legendären Talente-Internat von Ajax Amsterdam hervorgingen, sowie Alphonse Tchami, ein Ballzauberer aus Kamerun, sollen für die nötigen Treffer sorgen. Die kreative Abteilung im Mittelfeld verstärkt der Norweger Kjetil Rekdal. Der Weißrusse Sergej Mandreko (Rapid Wien) und Hendrik Herzog (VfB Stuttgart) sind Spezialisten in der Defensive. Nur Ersatzkeeper Gabor Kiraly aus Ungarn und Nachwuchsstürmer Carsten Lakies (Bayern München) gelten in Fachkreisen nicht unbedingt als „erste Wahl“.
Eine Auswahl, die sich sehen lassen kann. „Wir wollen den Zuschauern begeisternden Offensiv- Fußball bieten“, verkündet Röber. Und schreckt sogleich vor allzu vollmundigen Versprechungen zurück: „Aber Harakiri werden wir nicht machen.“ Dafür steckt die Angst vorm erneuten Absturz gar zu tief.
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