Panik und Circenses

Vom seidenmatten Zauberreich zur tödlichen Demarkationslinie: Der volle Reigen inszenierender Künste bei den Salzburger Festspielen  ■ Von Frieder Reininghaus

Gewaltig sprudelte die Salzach zur Begrüßung der Festspielgäste; weniger deren Geld. Die Gastronomie und die Geschäftsleute murren inzwischen laut und greifen teilweise zu noch brutaleren Methoden des Abzockens. So muß man also Überlebenstechniken entwickeln zwischen der Mehlspeisenpfanne im Peterskeller und der Sottisenschleuder des Festspiel-Impresarios.

Salzburg müßte zum Auftakt des Sommerfestivals vibrieren. Doch erst einmal dümpelt es dahin. Der belgische Historist Philippe Herreweghe dirigiert Mendelssohns „Elias“ und betont dabei die nazarenischen Schönheiten von Mendelssohns Musik. Roger Norrington versucht Mozarts Jugendoper „Mitridate“ durch ruppige Akzente lebendiger zu machen. Der Gesamteindruck: sehr edel, mäßig hilfreich als Supplement zum Kernrepertoire, vor allem ziemlich langweilig. Vielleicht sind nur wir bereits so abgestumpft, daß wir die feinen Erschütterungen unter der Oberfläche nicht mehr (oder nicht schon wieder) registrieren. Wir sehen, daß die einst so aufdringliche Reklame der Plattenfirmen sich noch weiter als in den vergangenen Jahren zurückgezogen hat; zum Ausgleich springt uns das „Welcome“ des Festivalsponsors Nestlé bereits auf dem Frühstückstisch des Hotels ins Gesicht.

Aber dann! Die „Entführung aus dem Serail“ aus einer selbst für die Vielgereisten wohl noch fremden Perspektive. Der aus Palästina stammende François Abou Salem inszenierte Mozarts Singspiel in Polaritäten der Ästhetik. Getreu den Maximen der Direktion setzt sich mit seiner Arbeit der längst begonnene Generationswechsel fort; er sorgte – wie anders – für Internationalität; vor allem auch ohne die in Theaterteutonien gängigen Brutalitäten für Gegenwartsnähe.

Auch sein Bassa Selim stammt aus der orientalischen Oberschicht, kam in den Westen und dann unter die Räder der internationalen Politik. Wurde eben aus einem Flüchtling des 18. zu einem des späten 20. Jahrhunderts und steckt nun in irgendwelchen Friedensverhandlungen – die Anspielung auf die Lage in Palästina ist deutlich, wird aber nicht ausgewalzt. Belmonte, ein Mann von heute und noch immer aus den besten Kreisen, gelangt auf der Suche nach der entführten Verlobten in den Orient – aus der Kiste an die stacheldrahtgesicherte Demarkationslinie. Er besticht Osmin, den modernisierten Chef-Leibwächter Selims, um an seine Konstanze, das Entführungsopfer, heranzukommen. Frappierend das gesellschaftliche Gefüge im Hintergrund Selims: Keiner und keine ist da je allein. Die Zwänge und die menschliche Wärme des Kollektiven treten in den Serail-Szenen plastisch hervor. Da verhandelt sich die Frauenemanzipation noch einmal. Hier ist das Ambiente bewußt nicht „geschmackvoll“ gestaltet, sondern dem Stil-Kauderwelsch der Luxushotels im Nahen Osten angenähert. Die Dialoge wurden sinnvoll modernisiert. Einige Passagen spricht Selim – der elegante und mit seinem gebrochenen Deutsch so charmante, dabei fortdauernd machohafte Akram Tillawi – in der Landessprache. Er läßt auch einen Trupp orientalischer Musiker das colorit locale unterstreichen. Marc Minkowski, das Energiebündel am Dirigentenpult, sorgt dafür, daß das Mozarteum- Orchester von der Ouvertüre an die bereits von Mozart gesetzten Tupfer der orientalischen Anklänge überpointiert. Bei einer Freiluftaufführung wirkt dieser Elan herzerfrischend.

Raffiniert Naivisches

Ganz auf der Höhe der Zeit sollte die von Peter Sellars aufbereitete Neufassung von György Ligetis „Le Grand Macabre“ sein – freilich offenbart auch sie, daß der hochverdiente Komponist am Anspruch, die Katastrophenerfahrung, das Grauen mit (wienerisch schwarz gefärbtem) Humor bewältigen zu wollen, scheiterte. Sellars erhielt aufs neue die Gelegenheit, in Salzburg zu demonstrieren, wie sehr ihn Sektenrituale faszinieren.

Nach diesem Desaster entführte Achim Freyer in ein Zauberreich, präsentierte zur Musik der „Zauberflöte“ ein Kompendium von circensischen Figuren, Kostümen, Gesten, Tricks, Accessoires, eingebettet in Zitate aus der Geschichte der Symbole von der Höhlenmalerei bis zur Gegenwart. Ein Fest für die Augen in den Farben des Regenbogens! Dazu raffinierter Wechsel von Sängern und deren Doubles, um das Freyersche Figurentheater zu ermöglichen. Eine Zirkusarena auf die breite Bühne der Felsenreitschule: In sie stürmt der orientalisch weiß gekleidete Prinz auf der Suche nach der Zirkusprinzessin seines Lebens. Raffiniert zeigt sich zur Bildnis-Arie das bewegte Bild von Sylvia McNair, der Pamina. Wie sie später von Todesangst und Todesbereitschaft singt, das ist Weltklasse! Die Königin der Nacht tritt als gramgebeugtes, altes Mütterchen herein. Aber dann richtet sie sich am Gedanken der Rache auf, wächst über sich selbst hinaus bis hinauf zur Zirkuskuppel – das rote Kleid wird dabei lang und länger, bleibt als Phantasmagorie einen Augenblick im Raum stehen.

Zum zweiten Finale besetzen die Choristen die Zuschauerbänke auf der Bühne, um die letzten Nummern in der Arena zu leben: die Feuerprobe von Tamino und Pamina, bei der die beiden tatsächlich über einen brennenden Balken schreiten, und die Wasserprobe, in die das niedere Paar mit seinem Kinderwunsch lächerlich platschend gerät. Zur ganzen Turbulenz, Farbigkeit und all dem überbordenden Motivreichtum von Achim Freyers Inszenierung gesellt sich bewußt ebenmäßig gehaltene Musik, die Christoph von Dohnányi anleitet: seidenmatt der Streicherglanz der Wiener Philharmoniker, alles in fast klassizistischem Maß gehalten. Das Naive des Stücks wurde vom gewaltigen Arsenal an raffiniert naivischen Bildmotiven aufgefangen. Ein Geniestreich!