: Inflation der Hoffnungsträger
■ Vor dem Bundesliga-Auftakt am Sonntag beschwört der krisengeschüttelte HSV den Neuanfang. Befehl von Seeler: Es darf nur noch nach vorne geschaut werden. Der Blick zurück wäre sinnvoller
Vorigen Dienstag bekam Jürgen Engel unerwarteten Besuch. Die Staatsanwaltschaft durchsuchte Privat- und Geschäftsräume des ehemaligen Schatzmeisters. Es ging und geht noch immer um den Vorwurf der Untreue. Der Hotelier soll beim inzwischen rückgängig gemachten 20-Millionen-Erwerb von drei Ost-Immobilien durch den HSV 993.000 Mark Provision kassiert und auf Privatkonten transferiert haben. Ein Ermitt-lungsverfahren gegen Engel läuft.
Der amtierende Vorstandsvorsitzende des HSV, Uwe Seeler, verspürte wenig Lust, die Aktion der Staatsanwaltschaft zu kommentieren. „Ich kann dazu keine Stellung nehmen“, sagte der 60jährige. Er wisse von nichts. Außerdem war Seeler gerade unpäßlich, weil sein linker Knöchel schmerzte, den er sich bei einem Wohltätigkeitsspiel gebrochen hatte.
Doch auch in Zeiten uneingeschränkter Fitness wird Seeler einsilbig, manchmal sogar pampig, wenn es um die Geschäfte seines „guten Freundes“und einstigen Präsidiumskollegen Jürgen Engel geht. An die jüngste Vergangenheit mit etlichen Skandalen und vielen Peinlichkeiten mag der selbständige Sportartikel-Kaufmann nicht erinnert werden. „Wir wollen in die Zukunft schauen“, sagt der Vereinschef statt dessen lieber und beschwört den „Neuanfang“.
Ähnlich reden beim HSV alle Verantwortlichen. Man müsse endlich „einen Schlußstrich“ziehen, meint etwa Manager Bernd Wehmeyer. Wer dennoch Rückschau betreiben möchte, dabei sogar vorsichtig Kritik übt, wird schnell als Nestbeschmutzer geoutet. So verlangte Seeler jüngst von den letzterdings nicht immer spur-treuen HSV-Fans, den Verein „positiv zu unterstützen“und wieder „eine Gemeinschaft“zu sein. Maul halten und Pfötchen geben also.
Damit fürderhin Moral-Appelle nicht mehr nötig sind, hat sich der HSV entschlossen, seiner Anhängerschaft künftig offener gegenüberzutreten. „Wir wollen auf euch zugehen“, versprach der neue Trainer Frank Pagelsdorf bei seinem Amtsantritt und kündigte gleich die ersten vertrauensbildenden Maßnahmen an: Trainerbank näher an die Kutten-Kurve, Autogrammstunden und Fanclubbesuche.
Doch ob Signets der Profi-Kicker und ein, zwei gemeinsame Apfelschorlen reichen werden, um die Fans des Fast-Absteigers zu versöhnen? „Wir brauchen Geduld“, sagt Pagelsdorf, der schon jetzt zuweilen etwas ratlos wirkt. „Ich kannte es bisher nicht, von den eigenen Anhängern ausgepfiffen zu werden“, stellt sich Pagel vor seine Mannschaft.
Der ehemalige Coach von Hansa Rostock und Union Berlin genießt bei den Fans hohes Ansehen. Die Unmutsäußerungen („Absteiger, Absteiger“) galten nicht ihm, dem 39jährigen Retter, als der Pagelsdorf vielen erscheint. „Wenn nicht er, wer sonst“, heißt es immer wieder. Und immer wieder sagt Pragmatiker Pagelsdorf, daß man nicht zuviel verlangen solle – und meint damit nicht nur die Erwartungen an die Mannschaft, die der kicker als Absteiger Nummer eins getippt hat. Alles brauche seine Zeit, „die Serie dient der Stabilisierung“. Platz 13 soll demnach gehalten werden.
Daß Pagelsdorf ob dieser wenig Prickeln versprechenden Saisonperspektive nicht gesteinigt wird, zeigt, wie groß allenthalben das Vertrauen ist, das der beleibte und beliebte Übungsleiter genießt. Wo doch Stillstand branchenintern als Rückschritt gilt.
Aber vielleicht sind sie beim HSV auch einfach nur froh, daß es endlich mal wieder einen gibt, der anpackt und volksnah spricht, der sich mehr für praktische Dinge wie Gummibärchen und Coca-Cola interessiert und nicht – zumindest nicht coram publico – den Extravaganzen des Lebens zuneigt: „Auf Luxus lege ich keinen Wert.“Und die Spieler haben wieder Respekt, den sie – zum Verdruß des Publikums – unter seinem Vorgänger Felix Magath verloren hatten.
Ohnehin wird ordentliche Arbeit im Dienste des Vereins mit der großen Tradition dieser Tage schnell honoriert. Der bullige Stürmer Dirk Weetendorf ist nach drei Bundesligaeinsätzen und zwei Toren schon der neue Wundermann. Horst-Uwe wird der 24jährige Pansdorfer gerufen. Hört sich vielversprechend an: kopfballstark wie Horst Hrubesch und proper wie der junge Uwe Seeler.
Etwas länger brauchte Werner Hackmann, um zum Hoffnungsträger aufzusteigen. Seit Februar 1997 hauptberuflich für den HSV tätig, schlug die Stunde des Ex-Senators nach den Rücktritten von Jürgen Engel und Vize Volker Lange. Der Lohn für den unermüdlichen Einsatz des bewährten Sozialdemokraten war die Beförderung vom Geschäftsführer zum hauptamtlichen Präsidiumsmitglied.
Jetzt versucht sich der fleißige Hackmann als Ideengeber für den maroden HSV. Auf Ini-tiative des Trümmermanns sind die Hamburger inzwischen mit einer Homepage im Internet vertreten. Man will schließlich nicht hinterherhinken. Und weiter? „Ich bin kein Visionär“, sagte Hackmann im Mai 1996 anläßlich seiner Wahl zum Präsidenten des Hamburger Sportbundes. Das muß er auch beim HSV nicht sein: Der Verein legt keinen Wert auf Zukunftsentwürfe. Auf Vergangenheitsbewältigung auch nicht. Bleibt die Gegenwart – trist. Schöne Zeiten. Clemens Gerlach
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen