Wenn Dealer sich die Kugel geben

Alles wird gut, versprach 1995 das „Handlungskonzept St. Georg“. Tatsächlich?  ■ Von Silke Mertins

Auf einem weißen Plastikstuhl räkelt sich der ergraute Mittfünfziger in der Sonne. Ein italienisches Liedchen trällernd, streicht er sich über das breitgerippte Unterhemd. Wohlwollend besieht er sich das Treiben auf der „Hauptstraße“St. Georgs, der Langen Reihe. Neben ihm heult ein Knirps seinem runtergefallenen Eis am Stiel hinterher. Fast wäre das schwule Pärchen, das unter der Last der Einkäufe keucht, in die zu Boden gegangene Schleckerei reingetreten.

„Hach“, sagt Polizeirevierleiter Torsten Seeland, „ich habe dieses Viertel richtig liebgewonnen.“An Sommerabenden komme ihm der quirlige Stadtteil in unmittelbarer Nähe zur Alster sogar „richtig mediterran“vor. Daß es einmal zu diesem Bekenntnis kommen würde, hatte der 41jährige nicht erwartet als er vor eineinhalb Jahren die Leitung der Wache 11, Inbegriff des Polizeiskandals, übernahm.

Federnd geht der ehrgeizige Zwei-Meter-Mann durch sein Revier. Auf dem Straßenstück, das den Hachmannplatz mit dem Steindamm verbindet, bleibt er stehen. „Hier“, breitet er seine langen Arme aus, „standen vor zwei Jahren noch 150 Dealer, es war kein Durchkommen.“Die sind weg.

Kein einziger schwarzer oder kurdischer Dealer ist auf dem Hachmannplatz zu sehen. Die offene Drogenszene hat sich längst auf das vor zwei Jahren eingeführte „Handlungskonzept St. Georg“eingestellt. Seit 110 Polizisten flächendeckend Platzverweise erteilen, warten die Händler in den Unterführungen und Gängen zur S-Bahn auf ihre Kuriere – deutsche Junkies, die oben in der Szene auf Kundensuche gehen.

„Wer braucht Schore?“wirbt ein schlotterdürres Kerlchen Heroinkunden für die Dealer. „Ich will Rosch!“hetzt ein junger Türke an ihm vorbei. Er ist auf Entzug; Rosch – das Medikament Rohypnol – lindert die Schmerzen. Mittendrin schlendern Polizisten, sie kontrollieren den einen oder anderen und erteilen Platzverweise.

Die Dealerszene ist ethnisch streng getrennt: Heroin ist eine Domäne der Kurden, Kokain wird ausschließlich von Schwarzafrikanern vertrieben, und der Haschisch- und Marihuanamarkt gehört den Nordafrikanern. Allesamt männlich.

Der dünne Kurier hat inzwischen genügend Käufer aufgetrieben. Letzte Absprachen werden getroffen. Mehrere Kaufinteressenten verschwinden zum verabredeten Ort. Junkies festzunehmen, winkt Seeland ab, „hat keinen Sinn“. Die Richter lassen Drogenabhängige grundsätzlich wieder laufen.

In der Bremer Reihe, Ecke Hansaplatz, ist der türkische Junkie fündig geworden. Er hat sich doch für Kokain entschieden. Ein junger Afrikaner fährt sich über den Mund, Hände berühren sich, das Kügelchen Stoff wechselt den Besitzer. Einem dritten wird das Geld zugesteckt.

Auf dem Hansaplatz, einem der schönsten Plätze der Stadt, ist eine Gestalt in sich zusammengesunken. Mit der Spritze im Mund läuft ein sich umblickender Junkie gegen einen Laternenpfahl. Vergleichsweise harmlose Szenen. Abends, wenn es richtig losgeht, trauen sich viele hier nicht vorbei. „Von Normalos“, sagt Michael Joho vom Einwohnerverein St. Georg, „wird der Platz nicht benutzt.“Kleiner sei die Szene geworden, „aber auch aggressiver“.

Den Stimmungswechsel nach zwei Jahren „Handlungskonzept St. Georg“spiegelt ein Artikel in der Stadteil-Zeitung Der lachende Drache wider: „Auch Toleranz hat Grenzen“, schreibt eine Anwohnerin. „Ich bin bestimmt keine Rassistin (solange das Bündnis gegen Rassismus in St. Georg existierte, arbeitete ich dort mit), aber trotzdem stelle ich bei mir selbst fest, daß die dunkelhäutigen Dealer meinen Blutdruck in die Höhe treiben.“Auf dem kurzen Stück zwischen Hansaplatz und Bremer Reihe an einem Sonntagmorgen „begegnete ich 50 Dealern und 3 Junkies“. Ihre Kinder seien mehrfach von Junkies nach Geld durchsucht worden, der Gang zur Arbeit werde zum „Spießrutenlauf“. Und die Polizeiautos stünden da – leer.

Der Ruf nach der Polizei läßt Revierleiter Torsten Seeland erstaunt die Augenbrauen hochziehen. „Bisher hat Der lachende Drache mich immer ans Kreuz genagelt.“Noch mehr Polizisten, glaubt er, würden die Situation „nur um Nuancen“verbessern. Drei Jahre nach dem Polizeiskandal wolle sich kein Beamter mit einem Schwarzen auf dem Boden wälzen, um seinen Mund nach Kokainkügelchen zu durchsuchen. Und ein Vollwaschprogramm wie in New York? „Das paßt nicht zu der von uns gewählten Staatsform, dem liberalen Rechtsstaat und meinem Demokratieverständnis.“