: Die Depression beginnt beim Betrachten des Teppichs Von Susanne Fischer
Auch der Tod würde ihr die Butter nicht vom Brot nehmen. Nein, da ist es schon wieder, das etwas Spitzige in ihrem eigentlich runden Gesicht, sie wirft Mund und Nase nach vorn, als wittere sie Morgenluft: Sibylle Wagner, seit 33 Jahren verheiratet, seit 36 Stunden verwitwet.
„Ich erlebe das zum ersten Mal“, sagt Frau Wagner, meine Nachbarin. Ich auch, denke ich, und so üben wir gemeinsam den Kondolenzbesuch. Vorher habe ich mich umgezogen, um nicht mit buntgeringelten Socken zu kondolieren. Richtig. Jetzt hocke ich aber unbeholfen wie ein Aasgeier auf der Kante des grünen Cordsofas. Falsch. Frau Wagner bietet mir etwas an – richtig. Ich lehne ab (falsch), weil ich nicht weiß, was zu nehmen wäre: Kaffee? Selbstgebackener Kuchen? Schnaps?
„Ich erlebe das zum ersten Mal“, versetzt Frau Wagner noch einmal, als könne jemand das bezweifeln. Plötzlich sieht sie angegriffen aus, aber wie hat sie das mit dem Kuchen hingekriegt? Hat sie ihre Nichte angerufen und gesagt, Liebes, es tut mir leid, Werner ist tot, back mir mal einen schönen Kuchen? Falls meine Nachbarin kommt mit ihren hungrigen Augen und mir das Beileid aussprechen will?
Das Beileid trägt man mit sich herum und gibt es ordentlich ab, am besten mit einem Händedruck. Ich denke, daß wegen dem Tod alles egal ist, und versuche die ganze Frau Wagner zu drücken. Noch nie habe ich gesehen, daß jemand davon getröstet wurde; meistens beginnen die Menschen dann erst richtig zu weinen. Das kriegt man als Gegenleistung für das Beileid geboten. Weil aber Frau Wagner ganz steif wird in meiner Nähe, kann ich sie nicht einmal halb umarmen und ihr nach der abgebrochenen Annäherung auch nicht mehr die Hand geben. So ist der Anfang schon mal vermurkst.
Frau Wagner staunt über ihr Erlebnis. Da hat er noch Fernsehen geguckt, da hat er gesagt, er hätte so Schmerzen, das hat er aber doch oft gesagt. Manchmal hat sie es gar nicht geglaubt, das gibt Frau Wagner jetzt offen zu. Sie legt keinen Wert darauf, für übertrieben empfindsam gehalten zu werden. Da hat sie den Arzt gerufen, aber da hat er schon so gestöhnt. Da haben sie ihn da neben der Schrankwand auf den Teppich gelegt, aber da war es eigentlich schon vorbei.
Der Arzt sei recht spät gekommen, sagt Frau Wagner noch, und nicht mal die Notfalltasche hatte er dabei. Herrn Wagners Schmerzen kannte er nämlich auch schon eine Weile, aber trotzdem. Da mußte ein anderer Arzt auch noch kommen, schließlich der Rettungswagen. Da war es aber eigentlich doch schon vorbei. Frau Wagner spitzt die Lippen und wiegt überlegend den Kopf hin und her. Ob die nicht schuld seien am Tod von Herrn Wagner mit ihrem Zuspätkommen und ihren falschen Taschen.
Auf der Beerdigung wird der Pastor sagen, daß die Zeit von Herrn Wagner eben gekommen war, und auf diese Formel wird man sich später einigen, weil es nach einer Weile leichter ist, das zu glauben, als dauernd daran zu denken, daß Herr Wagner mit seinen Schmerzen immer noch dasein könnte.
„Den Teppich habe ich auch schon wieder sauber, ich habe da ein gutes Mittel“, erklärt Frau Wagner beherrscht, und ich betrachte die makellose Auslegeware.
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