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Kein Mut zur Lücke

Geschichtsbewußt gegen die Pissrinne: Wohnprojekt in St. Pauli verglast historischen Grenzgang zwischen Hamburg und Altona  ■ Von Elke Spanner

Geschichtsbewußt bauen, das entspricht dem heutigen Zeitgeist. Nur ein kleines gallisches Dorf inmitten von St. Pauli leistet ... na, sagen wir: sich eine kleine persönliche Note. Wo andernorts ganz im Sinne der Historie Pissrinnen und abgedunkelte Dealer-Ecken entstehen, wird in der Brigittenstraße 6 demnächst eine ungewöhnliche Glaspassage den Weg in die Vergangenheit weisen.

Aber fangen wir am Anfang an, und der war ungefähr im Jahre 1258. Damals übertrugen die Grafen Johann und Gerhard von Hol-stein den Hamburgern die Gerichtsbarkeit über die Gegend vor dem Millerntor. Es entstand, was noch heute unter dem Namen Altona bekannt ist. Bis zum Jahr 1937 war Altona eine selbständige Stadt. Und da Hamburg kleinlich war, Altona aber nicht, fürchteten die hamburgischen Stadtherren, daß „allerhand Gesindel, reisende Handwerker oder Angehörige unerwünschter Religionen, vor allem Juden“, von dort in ihre ehrwürdige Hansestadt einfallen könnten. Also zogen und bewachten sie eine Grenze. Die verlief vom Schulterblatt über die Reeperbahn bis zum Altonaer Fischmarkt.

Noch heute sind Spuren des alten Grenzwächterganges in St. Pauli zu finden. Und eben auch auf jenem besagten Grundstück in der Brigittenstraße 6. An dessen Rand verläuft nämlich die alte Grenze. Und weil das so ist und noch dazu historisch, soll sie auch heute noch zu sehen sein. Das sagen die künftigen Bewohner, die Stadtentwicklungsgesellschaft (Steg), die Architektin und das Bezirksamt Mitte. Doch wie macht man einen Gang zum Gang?

Indem man sich zunächst „die Jungs vom Grenzgang“nennt, wie die künftigen Bewohner es tun. Indem man ihn freiläßt, sagt etwa die Steg. Und bisher auch das Bezirksamt. Das nämlich traf mit dem Denkmalschutzamt in den vergangenen Jahren die Absprache, daß dort Neubauten einen Durchgang von 1,50 Metern Breite lassen müssen. Was sie auch taten. Zum Beispiel Ecke Wohlwillstraße und Otzenstraße wird gerade eine solche Pissrinne gebaut. Doch 1,50 Meter Breite, das ist in der schmalen Baulücke in der Brigittenstraße schon fast das halbe Grundstück. Und außerdem, das fürchteten die „Jungs vom Grenzgang“, würde dann „eine Abfallgrube für Schmutz und Kloake“entstehen.

So genehmigte das Bezirksamt Mitte die Bebauung. Die Bewohner entschieden sich, den Gang nicht frei zu lassen, sondern zu betonen – durch ein zweigeschossiges Fenster an Vorder- und Rückfront. Auf daß zumindest durchs Haus hindurch zu sehen sei, wo sich einst Grenzwächter die Füße wund liefen.

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