■ Kommentar: Feigenblatt
Endlich schlägt sich die Erkenntnis, daß zum kranken Körper auch ein Mensch mit einer möglicherweise anderen Sprache und Kultur gehört, in konkreten Programmen nieder. Man möchte regelrecht frohlocken.
Doch worüber eigentlich? Daß die allwissende Ärzteschaft endlich auf den Trichter gekommen ist, der in Holland schon seit vielen Jahren praktiziert wird? Daß ausländische PatientInnen jetzt im Pilotprojekt das zugestanden wird, was ihnen von rechts wegen sowieso zusteht? Oder daß die ÄrztInnen ethno-medizinisches Wissen, das sie selbst haben müßten, auf Dolmetscher abwälzen?
Engagierten MedizinerInnen, die sich um den kulturellen Hintergrund ihrer PatientInnen bemühen, kann man keinen Vorwurf machen. Was krankt, ist das System. Learning by doing ist das Prinzip, nach dem das medizinische Personal sich seine kulturübergreifenden Kenntnisse erwirbt. Doch das ethno-medizinische know-how gehört bei durchschnittlich 15 Prozent ausländischen PatientInnen nicht in den Hobby-Bereich interessierter Ärzte, sondern ins Pflichtprogramm des Medizinstudiums. Die Halbgötter in Weiß müssen das Wissen über den Menschen als kulturelles Seelenwesen als zur Grundausstattung ihrer Ausbildung gehörig begreifen.
Wenn schon einheimische PatientInnen sich im Krankenhausbetrieb verloren und nicht selten ihrer Würde beraubt fühlen, wie mag es dann ausländische PatientInnen gehen, die weder deutsch noch medizinisch verstehen? Zu der Humanisierung des Krankenhauses gehört mehr. Das Dolmetscher-Programm ist nur ein Feigenblatt.
Silke Mertins
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