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Zen-Buddhismus und Zellulitis Von Wiglaf Droste

„Gaza-Streifen interessiert mich nicht. Ich habe selber Problemzonen genug“, hörte ich eine junge Frau am Nebentisch sagen. Eben noch hatte ich aufbrechen wollen, aber jetzt flüsterte mir meine innere Stimme sehr eindringlich zu: Hier sollst du bleiben, denn hier, am Quell des Quasselns und der Qualen, wirst du vieles erfahren.

Ich bestellte mir ein neues Getränk und ging auf Horchposten. Am Nebentisch war einiges los. Die junge Frau war zu viert und putzmunter: „Mit zweiundzwanzig schon Zellulitis. Das ist doch kein Leben“, lamentierte eine der vier. „Wußtest du, daß du schon ab achtzehn anfängst zu altern?“ pflichtete ihr die nächste bei. Die dritte protestierte scharf und entschieden: „Du vielleicht. Aber ich nicht!“ Allein die vierte versprühte Frohsinn und Pragmatismus. „Seid doch nicht so äußerlich. Darauf kommt es doch nicht an. Man kann schließlich etwas dagegen tun. Wenn man sich fit hält, kriegt man diese Probleme erst mit dreißig.“

Noch oft fielen in den nächsten Stunden die bösen Worte Orangenhaut, Bindegewebsschwäche, Krähenfüße und Schwangerschaftsstreifen; als Ohrenzeuge hätte man meinen können, einer hochgradig depressiven Menopausen-Vollversammlung beizuwohnen, aber ein Blick strafte diesen Eindruck Lügen: Die vier waren alle um die zwanzig, frisch geschlüpft quasi und fühlten sich schon super oll. Woher sie den Quatsch nur hatten? Von sadistischen Müttern? Aus dem Internet? Oder machten sie unter der Dusche Bindegewebevergleiche? Nur eine von ihnen hielt gegen das geriatrische Schnattern: „Ich möchte auch mit fünfzig noch genauso glücklich sein wie jetzt.“

Genauso glücklich sein wie jetzt, dachte ich – das ist ja Masochismus. Ich erinnerte mich meiner zen-buddhistischen Studien, die ich, inspiriert von den Romanen Janwillem van de Weterings, zu Zeiten juveniler Zerwirrnis getrieben hatte. Damals war ich ein Schüler gewesen, heute aber, obwohl noch immer ein Lernender, war ich ein Lehrer, ein Meister. Ich trug Verantwortung für diese jungen Menschen, ich mußte ihnen etwas geben, einen Wink, einen Fingerzeig, ein Licht.

Aber wie? Würden sie sich von einem 36jährigen Alteisen etwas sagen lassen? Würden sie mir nicht eher raten, ich solle mein Bruchband satteln und mich verpfeifen? Auch im ölig-schmissigen Ton eines hauptamtlich jugendlichen Radio-Fritz-Moderators, dessen Sprache sie vielleicht verstanden hätten, konnte und wollte ich sie nicht ansprechen – bis zur Selbsterniedrigung wollte ich meine Nächstenliebe nicht ausweiten.

Von einem zen-buddhistischen Meister darf man erwarten, daß er unkonventionelle Lehrmethoden zur Anwendung bringt. Er gibt keine Direktiven, sondern verblüfft seine Schüler; diese Irritation kann ein Auslöser sein, auf dem Pfad der Erleuchtung zu wandeln und dort vielleicht sogar ein Stück voranzukommen. Als ich vom Nebentisch erneut das Wort Zellulitis vernahm, stand ich auf, ging hinüber, verbeugte mich, sagte: „Es heißt Zellulose“, bückte mich, zog meine Sandalen aus und gab damit allen vieren eine sachte Ohrfeige auf jede Wange. „Zählen Sie mal bis Zen“, sagte ich noch, zog die Sandalen wieder an und ging meiner Wege, denn der Umweg über den nächsten Ausschank war das Ziel.

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