■ Die aktuelle Wiederholung: Verschwundene Schablonen
Im Fernsehen wimmelt es von Wiederholungen. Guter Anlaß für eine kritisches oder sentimentales Wiedersehen. Heute:
„Polizeiruf 110“, 22.15 Uhr, B 1
Leben ist Wandlung. Sendungen, die man vor, sagen wir, zehn Jahren nicht mit dem linken Knie angeschaut hätte, finden plötzlich nicht nur Gnade, sondern Gefallen. Wie „Polizeiruf 110“. Was haben wir gegähnt: der Diebstahl eines Mopeds aus der Kfz-Werkstatt der LPG, das geheimnisvolle Verschwinden von knappen VEB-Gefrierkombinationen in privat-egoistischen Kanälen – wer, bitteschön, sollte das spannend finden? Die „Polizeiruf“-Folgen des DDR-Deutschen Demokratischen Fernsehens waren unblutig, unschnell, kurzum uncool. Oberkommissare in Dederon-Windjacken, Hauptkommissarinnen, die mit Genossin angeredet wurden – das hatte man doch im wirklichen Leben genug. Nein, „Tatort“ fand man besser.
Heute ist das natürlich umgekehrt, weil sich das sogenannte wirkliche Leben umgekehrt hat. Und vielleicht ist es ja tatsächlich so, daß der Mensch immer nur das Fremde oder wenigstens das (nun) Verfremdete spannend findet. Die Gardinen – echt GRISUTEN, und die Tapeten, die hatten wir leider auch, weil Papa sie durchsetzte. Jenseits allen Wiedererkennens ist man heute, da alles zum Erfolg oder wenigstens nach Amerika drängt, berührt von der Kargheit der Wohnungen, der Genügsamkeit der Ziele, von der Kleinheit des Lebens. Heute ärgert man sich nicht mehr, man wundert sich über die grottenschlicht dramatisierten moralischen Prämissen, die jedem Fall zugrunde lagen. Denn Kriminalität war im Sozialismus eine Frage der Moral und Glück eine Angelegenheit aller. Und Moral ist anerziehbar. Borgelt und Frohriep, übernehmen Sie!
Heute die alten „Polizeiruf 110“ anzusehen, hat viel von Memento mori. Borgelt und Frohriep sind gestorben – so schwindet sie selbst in ihren Schablonen dahin, die machbare Utopie. Abgesehen vom Gefrierschrankmangel: Was für ein göttliches System, das sich Fragen wie die nach der Moral leistet, wenn auch nur theoretisch. Das ist heute nicht mehr modern, weil niemand genau weiß, was es nun genau bedeutet, moralisch zu handeln. Und das ist natürlich spannender. Anke Westphal
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen