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Tiflis war ein großes Gasthaus

Früher war die georgische Hauptstadt Tiflis für viele Sowjettouristen Anziehungspunkt. Garant für gutes Leben und südlichen Flair. Heute ringt es um den verlorenen Status  ■ Von Hanne Kremin

Die runden Kuppeln des unterirdischen Bades in Tiflis' Altstadt erheben sich flach über der Erde und haben der Stadt ihren Namen gegeben. Tiflis heißt übersetzt „Warmquell“. Durch einen in Pompejirot gehaltenen Vorraum werden wir in unsere Schwefelquelle gebracht. Tageslicht fällt von der Kuppel über uns auf das gekachelte Becken – wir sitzen bis zum Hals in dem weichen, heißen Wasser. Hier in der Bäderstraße gibt es zwei öffentliche Bäder, eines hinter einer blauweißen Majolikafassade nach iranischem Muster. Der prächtige hohe Eingang wird überragt von dem Minarett einer Moschee, und ein paar Schritte weiter im Judenviertel der Stadt bittet man uns freundlich in eine Synagoge. Durch die alte Handwerker-Gasse kommen wir zur Zionskathedrale, dem Zentrum der georgisch-orthodoxen Kirche und Sitz des geistlichen Oberhauptes. Tiflis hat schon immer Religionsfreiheit gewährt.

Die Altstadt steht unter Denkmalschutz und wird gerade restauriert. Hellblau, türkis und rosa leuchten die verzierten Holzbalustraden der Balkone und Loggien, die sich über die gemauerten Fundamente der Wohnhäuser hinauslehnen.

Hinter halbverfallenen Hausfassaden verbergen sich großzügig geschnittene und komfortabel möblierte Wohnungen. Früher sei Tiflis ein großes Gasthaus gewesen und konnte sich von seiner besten Seite zeigen, erklärt uns melancholisch ein junger Regisseur. Früher – das mag noch vor zehn Jahren gewesen sein, als die Stadt besonders für Touristen aus der Sowjetunion Anziehungspunkt und Garant für ein gutes Leben war. Urbanes und südliches Flair, begleitet von Eleganz in Modefragen und einem guten Angebot aller Dinge des täglichen Lebens, verleitet Besucher jener Tage noch heute zu schwärmerischen Schilderungen. Seit Georgiens lang erstrebter Unabhängigkeit im April 1991 ringt das Land um seinen alten Standard. Die ersten Ölquellen auf georgischem Boden wurden gefunden, Nato- und UNO-Vertretungen garantieren politischen Frieden, und künftig sollen Kraftwerke im nahen Kaukasus die Stadt mit eigenem Strom versorgen.

Wir lassen uns mit der Menge die alte Prachtstraße Rustaweli hinuntertreiben. Kleine Primel-, Hyazinthen- und Stiefmütterchensträuße werden uns zum Kauf entgegengestreckt. Die Türen der Cafés sind geöffnet. Wir steigen die Treppen hinab in ein Kellergewölbe am Rustaweli. Hier stellen wir uns mit den Tiflisern für eine erfrischende Laridse-Limonade an, deren Rezept vom Hersteller nicht preisgegeben wird, und essen dazu Ascharuli. In einen gut gewürzten und gebackenen Brotfladen ist ein rohes Ei mit Käse geschlagen. Wir betreten Läden mit westlichem Markenangebot, schauen hoch zu stuckbeladenen Decken mit Kristallüstern und rätseln, ob hier wohl einst ein Theaterfoyer oder die Halle eines Hotels war.

Die im maurischen Stil erbaute Oper hat „Madame Butterfly“ im Programm. Strindbergs „Totentanz“ wird von der ersten Schauspielergarde der Stadt in einem frisch ausgebauten Kellertheater aufgeführt – noch riecht es nach Baustaub und feuchtem Mörtel. Abends spielt in der Hotelbar Adjiara eine gepflegte Rentnerband klassischen Jazz. Reste eines ehemals lebhaften Kulturlebens.

Am gegenüberliegenden Ufer der Kura hinter der Agmaschenebeli-Straße – hier residiert die deutsche Botschaft – stehen die alten Markthallen von Tiflis. In den Gängen bieten schwarzgekleidete Landfrauen Berge von Gewürzen, Nüssen und Rosinen, Obst, Gemüse und eingelegten Käse an. Der Handel mit Fleisch und Fisch in den gegenüberliegenden Ecken ist offensichtlich Männersache. Auf einem Plateau unter freiem Himmel hocken Bäuerinnen mit bunten Kopftüchern einträchtig nebeneinander auf dem Boden und verkaufen Radieschen und Lauch aus ihren Gärten. Reisigbesen in jeder Größe stehen gebündelt den Gang hinunter. Wer sich keinen Stand leisten kann, läuft mit Zitronen und Eimern voller Eier den Markt auf der Suche nach Käufern ab.

Unsere georgischen Freunde fahren mit uns in ihrem alten Lada aufs Land, vorbei an den Vororten mit Einheitshochhäusern, die sich um die Bergerhebungen rund um die Stadt winden. In der Ferne begleiten die Schneegipfel des Kaukasus unsere Fahrt. Ziel ist das 25 Kilometer entfernte Mzcheta, die Uralthauptstadt von Georgien vor der Tifliser Neugründung. Wir begeistern uns über die Schönheit des Landes, und unsere Freunde quittieren es mit stolzem Lächeln. Sie erzählen eine Legende: Als Gott die Vertreter aller Völker zusammenrief, um die Erde zu verteilen, vertrieben sich die Georgier die Zeit singend, tanzend und zechend in einem Gasthaus. Erst als alles Land vergeben war, traten sie vor Gott. Der vergaß seinen Ärger über die Zuspätgekommenen, als sie zu tanzen und zu singen begannen, und gab ihnen vor lauter Freude an dem begabten Volk den Landstrich, den er sich selbst reserviert hatte – den Garten Eden!

Hinter einer Wegbiegung taucht vor uns die im 6. Jahrhundert gegründete Dschwari-Kirche auf. Wir sind auf der Spur der heiligen Nino, die von diesem Fleck aus das Christentum nach Georgien brachte. Auch die Kirche Zweti Zchoweli im Mzcheta ist eng mit den Legenden um die Religionsspenderin verbunden. Im Klostergarten von Samtawro empfängt uns eine Nonne. Hier fand die heilige Nino sechs Jahre lang Zuflucht, und seither steht ein alter knorriger Baum vor der Klosterkapelle. Grünt er nicht, wird Unheil über das Land hereinbrechen. Bis heute soll sich das Zeichen bewahrheitet haben. Die Marien-Ikone in der Samtawro- Kirche zeigt eine Tränenspur, und die Tochter unserer Gastgeberin will Zeugin gewesen sein, als das Bildnis vor wenigen Jahren zum ersten Mal weinte. Georgien ist voller Legenden, mystischer Begebenheiten, Magie. Von Tiflis bis zu den Klosterhöhlen von David Garedscha sind es 70 Kilometer. Den Weg durch die Schwerindustriestadt Rustawi hinaus in die Steppe kennen nur wenige Einheimische, denn das Gebiet war vierzig Jahre lang militärische Sperrzone der Sowjetarmee. Der Jeep quält sich durch Schlamm und tiefe Schlaglöcher. Noch ist die Steppe nur braune Erde, aber in wenigen Wochen wird sie sich in eine blühende Landschaft verwandelt haben. Vom bewohnten Höhlenkloster Lawra aus steigen wir auf, um auf der südlichen Bergseite die alten, in den Stein geschlagenen Höhlen vor uns zu sehen. Unser Begleiter begrüßt uns mit „Willkommen in Aserbaidschan!“ und deutet auf die weite Hügellandschaft unter uns.

Am Tag der Abreise geht der Regen in Strömen über Tiflis nieder. Unsere georgischen Freunde haben nichts anderes erwartet. Es ist das Datum des blutigen Aufstandes vor neun Jahren, als die Tifliser gegen die Politik Moskaus rebellierten. Und seither regne es an diesem Tag immer!

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