: Weiße Elefanten
■ Bei den Filmfestspielen in Venedig herrscht Flautenstimmung - nach Woody Allen war alles Antiklimax
Obwohl Halbzeit ist beim Filmfestival in Venedig, ist ein echter Goldener Löwe noch nicht in Sicht. Nur einen virtuellen kann man vier- oder fünfmal am Tag sehen, je nachdem, wie oft man ins Kino geht. Vor jedem Film fliegt er mit heftigem Flügelschlag und ohrenbetäubendem Dröhnen über eine virtuelle Lagune und ein virtuelles Venedig, landet auf einem virtuellen Campanile und reißt sein virtuelles, durch und durch mit goldenen Zähnen plombiertes Maul auf. Vier- oder fünfmal am Tag bekommt man dann die immergleiche Mischung aus Applaus und Pfeifkonzert zu hören. Wenn es sonst keine Kontinuität hier gibt, die gibt es immerhin.
Aggressive Burleske von Zhang Yimou
Auch der Chinese Zhang Yimou – sonst meist zumindest für einen Zensurskandal gut –hat die Mostra internazionale d'arte cinematografica nicht aus ihrer Lethargie reißen können. Obwohl „Keep Cool“, der Film, den die chinesischen Behörden nicht nach Cannes lassen wollten, dazu angetan ist, den Zuschauer nahezu verrückt zu machen. Es gibt in dieser Burleske – wie man sie zuletzt von dem eher kontemplativen Zhang erwartet hätte – keinen ruhigen Augenblick. Die Kamera torkelt betrunken durch jede Einstellung, und die Dialoge überstürzen sich und nehmen schier kein Ende.
Ein Mann, so etwas gibt es also auch in Peking, ist hinter einer Frau her, koste es, was es wolle. Er wird maßlos verprügelt, wobei der Laptop eines Unbeteiligten geschrottet wird. Dann gibt es endlose Verhandlungen über Ersatzleistungen und Schmerzensgeld und turbulente Szenen in einem – natürlich – Chinarestaurant, wobei es unter anderem darum geht, ob es erlaubt sein kann, einem anderen eine Hand abzuhacken. Und dann ist alles irgendwie zu Ende.
Jeder Gag, jeder witzige Einfall wird maßlos überagiert und bis zum letzten Schweißtropfen ausgepreßt in diesem Film, der so aussieht, als sei ein Löwe von der Leine gelassen worden. Oder – aber da kenne sich jemand in China und bei Zhang aus – als werde absichtlich gegen jede cineastische Correctness verstoßen. Dieser Humor ist aus der Wut gebacken.
Nein, besonders gute Filme sind hier bisher leider nicht zu sehen. Nur dann und wann ein weißer Elefant: Filme, von denen man sagen würde, daß sie immerhin festivalwürdig sind, und wenn nichts Bessseres mehr nachfolgt, wird es dafür auch Löwen geben.
Das könnte vielleicht dem amerikanischen „Niagara Niagara“ von Bob Gosse passieren, obwohl nichts Neues zu vermelden ist von einem Roadmovie, in dem zwei aussichtslose Jugendliche nach Toronto fahren, nur weil das Mädchen unbedingt den schwarzen Kopf einer Barbie-Puppe kaufen will, was es im rassistischen Amerika nicht gibt. Das Mädchen Marcy leidet am Tourette-Syndrom und versucht die unwillkürlichen Zuckungen durch erhöhten Alkoholkonsum zu mildern, und Seth, der Junge, ist ein pathologischer Ladendieb. Unterwegs entwickeln die beiden von ihren Familien vernachlässigten jungen Leute Gefühle füreinander, die ihnen bisher fremd waren, und sei es auch nur Vertrauen oder Fürsorglichkeit. Es gibt kein Happy-End, aber trotzdem geht man mit einem guten Gefühl aus dem Kino.
Das ist auch der Lohn dafür, wenn man bei dem brasilianischen Film „A ostra e o ento“ von Walter Lima nicht zu früh das Handtuch wirft. Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das nie etwas anderes kennengelernt hat als die kleine, nur von ihrem Vater, dem Leuchtturmwärter, seinem Gehilfen und ihr bewohnten Insel, regelrecht in der Gefangenschaft des eifersüchtigen Vaters.
Als das Mädchen Marcela in die Pubertät kommt, explodiert sie geradezu in Vitalität, erfindet sich Phantasiegestalten und einen Geliebten, der niemand anderes ist als der Wind, der hier nie stillzustehen scheint. Es wird noch eine sehr melodramatische Geschichte daraus, aber wie sie erzählt wird, ist bisher einmalig auf diesem Festival, denn es gehen nicht nur Gegenwart und Vergangenheit nahtlos ineinander über, sondern auch verschiedene Erzählperspektiven, was aus dem Film nicht nur ein Puzzle macht, sondern ein Stück innovativen filmischen Erzählens.
So apathisch ist dieses Festival, daß es nicht einmal auf einen politischen Skandal, und sei es ein inszenierter, sonderlich reagiert. Enzo Martinelli, 50jähriger Fernsehregisseur, hat sich in seinem Film „Porzûs“ der Zeugenaussagen und Akten bedient, die zur Zeit Gegenstand von Prozessen in Italien sind.
Es geht dabei um eine mörderische Auseinandersetzung zwischen christdemokratischen und kommunistischen italienischen Partisanengruppen im Februar 1945 an der slowenischen Grenze. Die (roten) „Garibaldiner“ werden beschuldigt, auf den bloßen Verdacht hin, sie an die Faschisten verraten zu haben, die Mitglieder der katholischen Gruppe scharenweisen exekutiert zu haben.
Zum Schluß ein virtuelles Politikum
Das jedenfalls ist die Ansicht, die der Film „Porzûs“ vertritt. Obwohl staatlich gefördert, hatte man ihn am Lido nicht im Programm haben wollen, konnte sich aber wohl Repressionen nicht entziehen. Dabei ist „Porzûs“ als Film so miserabel und wenig überzeugend gemacht, daß er nirgendwo in der Welt in ein Festivalprogramm gepaßt hätte. In Italien aber ist das etwas anderes, und so hat dieses eher virtuelle Festival wenigstens ein virtuelles Politikum. Peter W. Jansen
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