: Die Wildnis wurde übriggelassen
Nichts ist zu hören, nichts bewegt sich: Alaskas Stille ist ungewohnt. Neben häßlichen Städten und Ölfeldern gibt es vor allem unberührte Natur, die die Europäer nicht gebrauchen konnten. Einige Eindrücke aus Alaska ■ Von Dietrich Lemme
Von Ost nach West zieht sich die Brooks Range durch den Norden Alaskas, trennt das Interior (das Innere Alaskas) vom North Slope (dem sogenannten Nordhang). Auf der nördlichen Seite des Gebirges liegt Galbraith Lake, aufgestaut durch Ablagerungen von Gletschern, die sich vor einigen zehntausend Jahren schon weit in das Gebirge zurückgezogen haben. Als in den Siebzigern die Öl-Pipeline vom Arktischen Ozean an den Pazifik gebaut wurde, legte man hier einen Landestreifen und eine kleine Ansiedlung für die Bauarbeiter an. Der Landestreifen wird noch von Rangern benutzt, die von hier aus in den Gates of the Arctic National Park fliegen. Von der Ansiedlung ist nur noch eine Schotterfläche übrig. Der Park Service hat ein kleines Toilettenhäuschen und einen Müllcontainer aufgestellt, und mitunter zelten einige der wenigen Besucher dieses Gebietes am Ufer des kleinen Wildbaches, der in den Galbraith Lake mündet.
Von der etwas erhöhten Fläche aus streift der Blick frei durch das mehrere Kilometer breite Tal des Atigun River. Nichts wächst hier über Kniehöhe hinaus: Die arktische Baumgrenze verläuft weiter südlich irgendwo durch die Brooks Range. Dadurch erhält die Landschaft etwas ungewöhnlich Übersichtliches. So nah wirken die Berge auf der anderen Talseite, daß Greg und ich meinen, wir könnten sie auf einem Nachmittagsspaziergang erreichen. Drüben zieht die Pipeline entlang, daneben die Versorgungsstraße für die Ölfelder an der Küste. Merkwürdig deplaziert wirken die silberglänzenden Rohre und die Straße in dieser sonst so leeren Gegend.
Die Geräuscharmut der Arktis ist für mich Stadtmenschen gewöhnungsbedürftig. Leise plätschert der Bach in einiger Entfernung, und hin und wieder kommt eine Brise auf, fährt durch die Zwergsträucher, die überall den Schotter durchbrechen. Keine Singvögel und auch keine Insekten sind zu hören. Die Natur schweigt.
Nichts bewegt sich, nichts ist zu hören, still liegt das breite Tal vor uns und dahinter die steil aufragenden, roten Kalkfelsen an der Schlucht des Atigun River. Darin einige winzige weiße Punkte: Dallschafe, wie Greg bei einem Blick durch das Fernglas feststellt. Schon seit jeher scheint es hier genauso ausgesehen zu haben, und für alle Ewigkeit scheint dies auch so zu bleiben.
Nach dem Abendessen machen wir einen Ausflug zur Mündung des kleinen Wildbaches, an dem wir zelten – und den wir Galbraith Creek genannt haben. Sein Delta verliert sich in einem mehrere Hektar großen Fächer aus Kieselsteinen, die sich auf breiter Front in den See ergießen. Eine mächtige, meterhohe Pfannkuchentorte aus zentimeterdicken Eislagen bedeckt Teile der Deltaschüttung. Davor liegen verloren einige weiße Brocken von etlichen Metern Aufeis, das im Winter am Grund festfror und im Frühjahr von immer neuen Schichtfluten des von den Bergen herabströmenden Wassers überzogen wurde.
Gegen Mitternacht sind wir zurück bei unseren Zelten. Es ist noch taghell. Erst Mitte August wird es wieder dunkel werden. Wir setzen uns auf der Schotterfläche in unsere Campingstühle, trinken ein Bier und bewundern die Sonne, wie sie tiefrot über den North Slope im Norden hinwegzieht.
Am nächsten Morgen schultern wir unsere Rucksäcke und ziehen los, den Galbraith Creek aufwärts. Die Tundra ist dicht an dicht übersät mit Tussocks, kürbisgroßen Grashorsten, die zwanzig bis dreißig Zentimeter aufragen. Wie kleine Türmchen stehen sie da, knicken aber sofort um, wenn wir sie besteigen. Schildkröten gleich stapfen wir voran, setzen Fuß vor Fuß zwischen Grasschopf und Grasschopf, und in einer unendlich langsamen Zeitlupe verändern sich die Perspektiven, verschieben sich die Berge, öffnet sich langsam das Tal vor uns und wachsen links und rechts Felsen empor.
Abends sitzen wir vor dem Zelt, trinken Tee und schweigen. Vor uns liegt der Unterlauf des Galbraith Creek: ein zwei Kilometer breiter, ebener Talgrund, flankiert von Erosionsschutthalden, in denen senkrechte Felswände ertrinken. Dunkelgrünes Weidengestrüpp zieht am Bachlauf entlang, im Hintergrund verlieren sich die flachen Hügel und Ebenen des North Slope. Wir fragen uns, wieviel verschiedene Wörter die Indianer und Eskimos dieser Gegend für die Farbe Grün haben. Zusammen mit dem Weiß von Schnee und Eis nimmt es wohl vier Fünftel der Flächen ein.
Es scheint, als stünde die Zeit still. Die Abwesenheit der Tageszeiten unter der Mitternachtssonne, die Bewegungslosigkeit aller sichtbaren Erscheinungen, die Leere der aufgeräumten Landschaft: diese scheinbare Dauerhaftigkeit der vom Menschen unberührten Natur bringt jedes treibende Gefühl zum Erliegen. Wir wollen einfach nur dasitzen und schauen.
Nach zehn Tagen stehen wir wieder vor unserem Auto, und schon das Schließen des Schlüssels im Türschloß scheint ein derartig fremdes Geräusch, daß ich an das Aufheulen des Motors gar nicht zu denken wage.
Der Dalton Highway kommt von Livengood, nördlich von Fairbanks in Zentralalaska, und er führt zu den Ölfeldern am Arktischen Ozean. Auf seinem Weg entfernt er sich nie mehr als einige Kilometer von der Transalaska-Pipeline. Bis 1994 war der Highway für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Der damalige Gouverneur Hickel, ein Autonarr, dessen Obsession es war, als der Highway-Gouverneur in die Geschichte des Staates einzugehen, verfügte die Öffnung der Straße. Doch Autonarr hin, Highway-Gouverneur her, auch wir rollen im Leihwagen nordwärts, nehmen Vorteil von Hickels Vorliebe.
Vier Autostunden nördlich von Galbraith Lake heben sich grüne, rote und blaue Rechtecke vom Horizont ab. Binnen einer halben Stunde befinden wir uns am Rand eines Sees, umgeben von Wellblechhallen, inmitten eines Gewirrs aus dicken und dünnen Rohren. Reger Verkehr herrscht auf den Straßen des Ortes mit dem bezeichnenden Namen Deadhorse.
Nach links zieht sich die Tundra dahin, und möglicherweise hat auf jenen Fleck Erde, umgeben von einem der belebtesten Industriegebiete nördlich des Polarkreises, noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt. Jedenfalls, da sind wir uns sicher, wird kaum einer der Tussock-Grashalme jemals von einer Schuhsohle berührt worden sein. Fast unerträglich ist der Kontrast zwischen den unberührten Inseln und dem Tohuwabohu hin und her fahrender LKWs im Format von Einfamilienhäusern.
Ein Polarfuchs im aschgrauen Fell trabt am Seeufer entlang. Genau vor unserem Auto bleibt er plötzlich im Lauf wie erstarrt stehen, bewegt den Kopf blitzschnell über die Schulter zu uns herüber, schaut für einige Sekunden – und trabt weiter.
In der Arctic Lodge kostet ein Doppelzimmer 225 Dollar. Wir bleiben zwei Nächte. Heiße Duschen, Fernsehen, Essen im Überfluß, frisches Obst sogar: Melonen, Erdbeeren, Orangen. Wir stopfen wahllos Hähnchenschenkel, Himbeereis, Schokoladenkuchen, Rumpsteaks in uns hinein. Bei der Verköstigung wird nicht gespart. Hier oben gehört alles den Ölkonzernen, und weil hier niemand herkommt, der nicht zu den Ölkonzernen gehört, und weil dieser Flecken Erde für die meisten Menschen zu den verlassensten Gegenden dieses Planeten gehört, sind die Ölkonzerne mehr als großzügig. Und die paar Touristen, die sich im Sommer hierher verirren, werden generös mit durchgefüttert.
Zwischen den beiden Nächten machen wir einen Spaziergang über die Ölfelder. Zumindest über den Teil, der öffentlich zugänglich ist. Greg ist angewidert von der Ignoranz der Ölindustrie.
Zwei Tage dauert die Rückfahrt nach Fairbanks, inklusive einer Nacht am Dietrich River bei Coldfoot. Coldfoot besteht aus einer Tankstelle, einem Hotel, einer Kneipe und einem Restaurant (das tatsächlich ein Restaurant ist), drapiert um etwa drei Fußballfelder aus Schotter. Bezeichnenderweise regnet es beide Male, als wir den Ort passieren.
In Fairbanks gehen Greg und ich noch mal einen trinken: Im Malvin's gibt es täglich Live-Musik, am Samstag sogar zwei Bands auf verschiedenen Bühnen. Alaska, erläutert mir Greg, ist von den Europäern besiedelt worden, um ausgebeutet zu werden. Niemand von ihnen hatte jemals ernsthaft daran gedacht, hier länger zu bleiben als unbedingt nötig. Oder zumindest waren jene, die so dachten, stets in der Überzahl. Die fast unerträgliche Häßlichkeit der Orte, an denen Europäer in Alaska ihre Spuren hinterlassen haben, wird erklärlich. Dreißig Grad sind im Juli keine Seltenheit, und strahlend blauer Himmel ist die Regel. Aber wo hocken die Müßiggänger, die faulenzenden Sonnenanbeter?
Erst in den letzten Jahren, so erzählt mir Greg weiter, kamen Leute um des Landes willen und nicht trotz des Landes. Ihre Häuser sind leicht zu erkennen, im Sommer blühen in ihren Gärten Blumen, Wiesen erstrecken sich bis an die Grundstücksgrenzen. Sie versuchen es sich hübsch zu machen. Unvergessen dagegen der Anblick eines umgebauten Vierzig-Fuß- Speditionscontainers, in dem der Besitzer einer Goldmine wohnte, mitten im Urwald mit Blick auf den häßlichsten Flecken in hundert Meilen Umkreis: mehrere Quadratkilometer aufgerissener Erde, gesäumt von meterhohen Wällen zusammengeschobener Baumstämme, garniert mit einem Arsenal verrostender Baumaschinen. Jener jedoch spürte bei diesem Anblick wohl sein Herz höher schlagen.
Und was ist mit den Indianern und den Inuit? frage ich Greg. Ein kurzes Räuspern. „Die leben nur dort, wo sowieso keiner hinkommt. Da gibt's keine Straßen.“ Kotzebue an der Westküste und Barrow am Arktischen Ozean sind die beiden einzigen Native Towns; beide sind nur mit dem Flugzeug erreichbar. Alle anderen Siedlungen der Natives sind kleine Dörfer, irgendwo im Busch. Manche leben noch von Subsistenzwirtschaft, jagen noch oder züchten Rentiere. Andere bekommen Geld von Ölkonzernen oder Goldminen. Nur die Inuit auf Seward-Peninsula, ganz im Westen, die betreiben Außenwirtschaft im größeren Rahmen: Japanische Männer glauben, daß die gemahlenen Geweihknochen der Rentiere potenzfördernd wirken. Ein ganzer Stamm der Inuit lebt davon.
Weißt du, meint Greg schließlich, in Alaska leben ungefähr 600.000 Weiße. Wenn wir die alle über den Rest der USA verteilen würden, also ich meine, das wäre ja wahrscheinlich noch innerhalb der statistischen Streuung, also das würde doch keiner merken. Und nach einer solch kleinen Maßnahme wäre ein riesiges und so wildes Land wie Alaska einfach sich selbst überlassen. Wäre das nicht phantastisch?
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