■ Die drei Säulen Strafe, Prävention und Therapie müssen um Maßnahmen der Überlebenshilfe erweitert werden
: Neue Wege in der Drogenpolitik

Eine freie Gesellschaft kann den Gebrauch von Rauschmitteln durch Verbote und strafrechtliche Mittel alleine nicht verhindern. Das gilt für Rauschmittel aller Art, auch für solche mit niedrigem Suchtpotential. Erst recht gilt das aber für Drogen, deren Konsum zur Sucht, zur psychisch-physischen Abhängigkeit führt. Es ist das Besondere der Sucht, daß bei ihrer Bekämpfung die vom Strafrecht erwarteten präventiven Wirkungen versagen müssen. Sucht ist eben kein Kriminaldelikt. Sucht ist eine Krankheit.

Daß daran immer wieder erinnert werden muß, liegt an der strafrechtlich fixierten drogenpolitischen Debatte, wie sie in Deutschland seit Jahrzehnten geführt wird. Aus dieser verengten Perspektive ist Drogenpolitik zuallererst Kriminalpolitik. Sucht soll mit Verboten, mit polizeilicher und juristischer Repression und mit staatlich verordneter Abstinenz „bekämpft“ werden.

Nicht nur in Deutschland zeigt die Realität jedoch, daß die repressiv fixierte Drogenpolitik gescheitert ist. Nach einer kurzfristigen Stagnation zwischen den Jahren 1992 und 1995 steigt die Zahl der jährlichen Drogentoten wieder deutlich an. Über 1.700 meist junge Menschen sind im letzten Jahr an den Folgen des Gebrauchs „harter“ Drogen gestorben. Die polizeilich ermittelte Anzahl von Erstkonsumenten steigt. Die suchtbedingte Verelendung der meist jugendlichen Abhängigen zeigt sich in den Brennpunkten der Großstädte. Verzweifelt versuchen diese, die Drogenszenen mit polizeilichen Maßnahmen aufzulösen, um den berechtigten Forderungen und Ängsten der Bürger und Bürgerinnen Rechnung zu tragen. Fast immer ohne Erfolg. Schätzungen zufolge werden in Deutschland jährlich über drei Milliarden Mark zur Bekämpfung der Drogen- und Beschaffungskriminalität aufgewendet. Dieser gewaltigen Summe stehen gerade einmal 25 Millionen Mark gegenüber, die für Suchtprävention und zur Suchtforschung ausgegeben werden.

Und die Abhängigen? Sie pendeln zwischen Polizeipräsidium und Straße. Hoffnungslos rotieren sie im Teufelskreis von Sucht, Kriminalität und psycho-physischer Verelendung. Das Ziel eines suchtfreien, eigenbestimmten und menschenwürdigen Lebens rückt in weite Ferne. Jahrelang wurden die Befürworter neuer Wege in der Drogenpolitik als „Verharmloser“ und „Legalisierer“ beschimpft. Angesichts der nicht mehr zu leugnenden negativen Bilanz der repressiv fixierten Drogenpolitik geraten deren Befürworter nun aber selbst in die Defensive. Neben vielen Drogenexperten sprechen sich neuerdings auch viele Polizeipräsidenten deutscher Städte für eine Neuorientierung der Drogenpolitik aus. Sie sind es leid, ihre sowieso beschränkten Kapazitäten vergeblich gegen faktisch nur noch beschränkt strafmündige Abhängige und deren Beschaffungskriminalität einzusetzen, statt sich der Bekämpfung des organisierten Drogenhandels annehmen zu können.

Es besteht kein Zweifel: die auf den Säulen Strafe, Prävention und Therapie ruhende deutsche Drogenpolitik muß um eine vierte Säule, nämlich um konkrete Maßnahmen der Überlebenshilfe erweitert werden. Statt sich das illusionäre Bild einer suchtfreien Gesellschaft vorzugaukeln, muß die neue Politik von einer realistischen Einschätzung der Drogenabhängigkeit ausgehen. Sie darf die staatliche Fürsorge auch denjenigen drogenabhängigen Menschen nicht versagen, die mit Entzugsprogrammen, also mit abstinenzorientierten Therapieformen (noch) nicht erreichbar sind.

Zwar ist mit den mittlerweile auch von der Bundesregierung positiv eingeschätzten Substitutionsprogrammen, die vor Jahren gegen den Widerstand der konservativen Drogenpolitik durchgesetzt wurden, ein Anfang gemacht. Allerdings sind sich die meisten Fachleute einig, daß die kontrollierte Verabreichung von Drogenersatzstoffen (wie Methadon) sehr viel intensiver als bisher von psycho- sozialen Betreuungsangeboten begleitet werden muß.

Zur vierten Säule einer neuen Drogenpolitik gehören aber auch die Legalisierung und Einrichtung von sogenannten Gesundheits-, Ruhe- oder Rückzugsräumen, in denen Drogenabhängige ihrem Konsumzwang unter hygienisch kontrollierten, streßentlastenden und sozial verträglichen Bedingungen nachkommen können. Es liegt auf der Hand, daß mit der Einrichtung solcher Räume auch der Verwahrlosung des öffentlichen Raums und der gesundheitlichen Gefährdung vor allem von Kindern durch zum Beispiel weggeworfene Spritzen wirksam begegnet werden kann.

Und nicht zuletzt sollte Deutschland sich an der Fortsetzung und Erweiterung des in der Schweiz durchgeführten Großversuchs der kontrollierten Verabreichung von Heroin an Schwerstabhängige beteiligen. Der jetzt vorliegende Abschlußbericht dieses Versuchs zur kontrollierten Verabreichung von Betäubungsmitteln an Schwerstabhängige dokumentiert nicht nur eindrucksvoll, daß sich der psycho-physische Zustand nahezu aller an dem Versuch beteiligten Schwerstabhängigen grundlegend verbessert hat. Auch deren Beschaffungskriminalität einschließlich des bei Schwerstabhängigen üblichen Kleinhandels mit illegalen Drogen ist so gut wie verschwunden. Dieses zwar erwartete Ergebnis hat neben der Abnahme der Kriminalitätsbelastung auch die nicht zu unterschätzende positive Wirkung, daß der mit der Kleindealerei potentiell einhergehenden Marktausweitung („Anfixen“) seitens der Drogenabhängigen kein Vorschub mehr geleistet wird. Auf diese Weise wird zudem ein Beitrag geleistet, professionelle Drogendealer von ihrer Endverteilerbasis abzuschneiden.

Nicht zuletzt hat sich die psychisch-physische und soziale Lage der vorher hoffnungslos verelendeten Drogenabhängigen soweit stabilisiert, daß die meisten der an dem Versuch Beteiligten jetzt in weitgehend geregelten Verhältnissen leben. Sie brechen den Kontakt zur Drogenszene ab, und fast zwei Drittel der aus dem Versuch ausscheidenden Abhängigen entscheidet sich für die Teilnahme an substitutions- oder gar abstinenzorientierten Therapieprogrammen.

Es besteht kein Zweifel: auch die Ergebnisse des schweizerischen Versuchs sprechen dafür, die deutsche Drogenpolitik in dem genannten Sinne zu verändern. Nun kommt es darauf an, für den Ausbau der vierten drogenpolitischen Säule, der allerdings nicht zu Lasten der Prävention und des Therapieangebots erfolgen darf, die notwendigen politischen Mehrheiten zu gewinnen. Sabine

Leutheusser-Schnarrenberger