■ Scheibengericht: Hildegard von Bingen
„Illumination. The Fire of the Spirit“. Original compositions, arrangements and interpretations by Richard Souther (Sony)
Hildegard von Bingen wird derzeit kräftig reanimiert. Nicht nur MusikarchäologInnen haben in Sachen „komponierende Frauen“ ihr Augenmerk auf die mittelalterliche Nonne gerichtet. Rechtzeitig zur anrollenden HvB-Ekstase zum 900. Geburtstag hat Sony eine Hildegard-CD herausgebracht. Doch wer glaubt, der Untertitel „Original compositions...“ bezöge sich auf die Namensgeberin, sieht sein Geld vergeblich investiert. Die Inhaltsangabe bezieht sich ausschließlich auf den „Crossoverkomponisten“ Richard Souther, der hier neben eigenen Pop-Musik-Kreationen verschiedener Stilrichtungen einige Elemente hildegardscher Musik (in einem sehr weit gefaßten Sinne) in seine Stücke mit eingeflochten hat.
Doch wie aus Scham über die Tatsache, daß man sich der Frage, wie Hildegards Musik ursprünglich geklungen haben mag, gleich gar nicht erst gestellt hat, wird der Bezug zur Komponistin, unter deren Namen die CD schließlich vermarktet wird, auf Biegen und Brechen hergestellt. Abgesehen von den lateinischen Texten soll es das „Spirituelle“ richten. Er, Souther, habe ähnlich wie Hildegard, die von mystischen Visionen, Licht- und Klangphantasien auch in eigenen Büchern berichtet, „Bilder“ in seinem Kopf „of colours, places and people“; darüber hinaus würde er auch vom „gleichen Licht“ wie sie geleitet...
Die heute etwas unpopuläre eschatologische Idee, daß Musik eine Vorahnung dessen vermittelt, welch Engelgesang einen im Himmel erwarte – immerhin die Quintessenz von Hildegards Musikanschauung –, bleibt dabei unberücksichtigt. Teilweise sind die Legitimationsversuche durch und durch weltlicher Art, etwa wenn der beigemischte irisch-keltische Einfluß so begründet wird: „it resonates with both, Hildegard and the world she inhabited in Rhineland“.
Wer in solchen Fragen nicht so spitzfindig ist, wer Synthesizer- Klänge im Viervierteltakt liebt, wer darüber hinaus ein Faible für echte singende Nonnen hat, sich für Musik begeistern kann, die passagenweise stark an Keith Jarretts Köln Concert erinnert und bei irisch-keltischen Einflüßen gerne meditiert, kommt trotzdem auf seine Kosten. Die CD darf als großflächig bedürfnisdeckend gelten, fragt man nicht gerade nach der originalen Hildegard.
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