Von Stuhl zu Stuhl

Und von der Geste zur Obsession: „Zweiland“, das neue Tanzstück von Sasha Waltz in den Sophiensälen  ■ Von Katrin Bettina Müller

Ein Mann räumt auf. Zur Ordnung entschlossen greift er sich Leiter, Brett und Stühle. Doch die Materie ist widerspenstig. Für jedes gepackte Ding entgleitet ihm ein anderes. Je mehr er sich müht, desto heftiger kracht es. So wird der Kampf um die Beherrschung der Sache zum artistischen Meisterstückchen von Klaus Jürgens. Das Publikum kann kaum noch ruhig sitzen vor Lachen. Der nächste Mann, der auf die Bühne kommt, hält eine Latte, eine einzige. Er läßt sie los, und sie erschlägt ihn. Da lacht man schon wieder; aber eigentlich ist das tragisch, und ein Engel erscheint zu seiner Rettung.

In „Zweiland“, dem neuen Stück von Sasha Waltz und ihren sieben Tänzern, das von den Berliner Festspielen im Rahmen der „Deutschlandbilder“ koproduziert wurde, ahnt man selten, was als nächstes geschieht. Die Bilder wechseln wild zwischen Traum und Satire, Slapstick und poetischen Zitaten. Da gibt es Mentalitätsstudien von deutscher Ordnungswut und Beamtenherrlichkeit am Schalter, die selbstverständlich in Groteske und Chaos enden. Da gibt es wunderliche Zwillingspaare: Das eine atmet mit zwei Bäuchen, redet mit zwei Händen und hat doch nur einen Kopf; das andere benimmt sich wie eine hölzerne Puppe und ihr Puppenspieler, den der widerstandslose Gehorsam seines Geschöpfs zu immer größerer Grausamkeit anstachelt. Doch man täte dem Eigensinn dieser körperlichen Paradoxien Gewalt an, müßte man sie als Symbol für Deutschland und seine Geschichte der Teilung und Wiedervereinigung verstehen. Das ist aber leider wohl die Intention.

Sasha Waltz' Flirt mit der Geschichte ist neu. Sie hat im kulturellen Erbe geschürft und zwischen Mittelalter und Romantik Lieder von Liebe und Todessehnsucht ausgegraben. Die Tänzer aus Spanien, Italien, Brasilien, Kanada und Japan singen sie, von Juan Kruz Diaz de Garaio Esnaola auf dem Akkordeon und Luc Dunberry auf dem Cello begleitet, und schon ihr spröder Akzent taucht die Gefühlsfragmente der Vergangenheit in Fremdheit. Die innere Bewegtheit der Sprache und die äußere Bewegung der Tänzer brechen auseinander. Die Lieder erzählen von einer Entgrenzung, die ganz im Gefühl und in der Seele stattfinden mußte, weil die gesellschaftlichen Bedingungen andere Ausbrüche nicht zuließen. Die Körper dagegen reden mit der Heftigkeit einer Generation, die längst alles am eigenen Leib erfahren hat und doch noch immer hungrig nach Gefühlen ist. Nur noch über die Gefahr kann die Erregung gesteigert werden: Deshalb riskiert Klaus Jürgens, daß ihm seine Hände unter den hohen Absätzen der auf dem Tisch tanzenden Laurie Young zerquetscht werden. Doch „Zweiland“ überzeugt weniger durch die Interpretation von Geschichte und zum Klischee erstarrten Mentalitäten, als vielmehr durch die körperliche Erfindungslust. Die Transformationen von alltäglichen Gesten in absurde Obsessionen, vom Leidenschaftlichen ins Grausame, vom Melancholischen ins Komische, bilden denn auch eher die Antriebskraft für die schnell wechselnder Bilder als die symbolischen Bezüge, die dahinterstehen.

Dabei wiederholt sich das Motiv eines nicht mehr vom eigenen Willen, sondern von fremder Mechanik gesteuerten Körpers: Da ziehen sich die Tänzerinnen an ihren Zöpfen in die Höhe, als würden sie sonst wie Marionetten zusammensacken, oder sie wackeln mit den Köpfen wie in der Wurfbude auf der Kirmes. Eine andere Qualität erreicht der Zustand des Außersichseins in der Traumwanderung von Vivianne Rodriguez de Brito, die über die Schultern der anderen wie über Berge steigt und von Stuhl zu Stuhl gerade in dem Tempo gehoben wird, mit dem man sich im Traum von der Erde abstoßen und plötzlich fliegen kann. Kasperletheater, Puppenspiel, Märchen, Jahrmarkt: Von diesen Bühnen holt sich Waltz die Legitimation zu kindlichen Allmachtsphantasien. Denn dort sind die Identitätskonflikte, die das Erwachsenenleben so problematisch belasten, noch ganz anders lösbar.

26.–28. September, 1.–5., 8.–12. Oktober, jeweils 21 Uhr, Sophiensäle, Sophienstr. 18