In den weißen Kacheln spiegelt sich das Elend

Die Arbeit in der Rettungsstelle des Kreuzberger Urban-Krankenhauses ist ein harter Job. In keiner anderen Klinik der Stadt bekommen die Ärzte und das Pflegepersonal der Ambulanz soviel Not und Armut zu sehen. Eine Nacht zwischen den Gestrandeten  ■ Von Plutonia Plarre

Reglos liegt eine Frau in der Rettungsstelle des Urban-Krankenhauses auf der Trage. Sie hat einen zerschlissenen Trainingsanzug an und ist bis auf die Knochen abgemagert. Verfiltztes, aschblondes Haar verdeckt ihr Gesicht. Ein beißender Geruch von Alkohol, Urin und Schweiß nimmt den Pflegern den Atem.

Die 56jährige ist gegen 21 Uhr hilflos am U-Bahnhof Hermannplatz aufgefunden und von einem Notarztwagen in die Rettungstelle gebracht worden. Dort schläft sie nun ihren Rausch aus. Nicht zum ersten Mal. Heute hat sie laut Blutbefund 4,1 Promille intus. Für manch anderen wäre diese Dosis schon tötlich. Aber die Patienten, die mit einer Alkoholvergiftung ins Urban eingeliefert werden, sind meist sehr trinkfeste Naturen. „Einmal ist sogar schon ein Mann mit 7,1 Promille wieder rausgelaufen“, sagt ein Doktor.

In keiner anderen Berliner Klinik bekommen Ärzte und Pfleger soviel Elend zu sehen, wie im Urban. In den weißen Kacheln der Rettungsstelle spiegelt sich die Problematik des Bezirks Kreuzberg wie in einem Brennglas wider. Kreuzberg ist das Armenhaus der Stadt. Mit über 28 Prozent hat der Bezirk die höchste Arbeitslosenquote und mit 27.000 die meisten Sozialhilfeempfänger. Der Ausländeranteil ist mit über 32 Prozent der höchste Berlins, die kinderreichen türkischen Familien gehören überproportional zu den Armen. Armut und soziale Entbehrungen machen krank. Kreuzberg verzeichnet die höchste Säuglingssterblichkeit und trotz seiner überdurchschnittlich jungen Altersstruktur ist das Sterberisiko 22 Prozent höher als anderswo. Auch die meldepflichtigen Krankheiten liegen in diesem Bezirk weit über dem Durchschnitt.

Die Glasscheibe am Aufnahmeschalter der Rettungsstelle durchzieht ein gewaltiger Sprung. Ein Patient hat unlängst mit beiden Fäusten auf das Glas eingeschlagen, weil seine Platzwunde am Kopf nicht auf der Stelle behandelt wurde. „Der Mann war betrunken vom Barhocker gefallen. Wir hatten noch Dringenderes zu tun“, erinnert sich ein Arzt.

Von rund 50.000 Patienten, die jährlich in der Rettungsstelle versorgt werden, sind ein Fünftel vom Alkoholkonsum gezeichnet. Nirgendwo sonst werden so viele Drogenabhängige behandelt wie im Urban. Tausende sind psychisch krank.

Gegen Mitternacht wird die 56jährige Alkoholikerin in die „Suite“ gefahren. So heißt der Ausnüchterungsraum mit separater Toilette. Es gibt eine Suite für Männer und eine für Frauen. Die Betten liegen auf dem Boden, damit sich niemand beim Rausfallen verletzt. Als sie von der Trage gehoben wird, rappelt sich die Frau einen Moment lang hoch, und verlangt mit krächzender Stimme nach einer Zigarette. Wenig später bekommt sie Gesellschaft. Eine beleibte Mittfünfzigerin hat in einem Altenheim in der Manteuffelstraße mit einigen Männern gebechert. 3,7 Promille lautet der Alkoholbefund. Statt ein Taxi zu rufen, entsorgten die Trinkgenossen die Frau, indem sie den Johanniter- Unfalldienst zum Abtransport ins Urban anforderten. „Is' schließlich billiger“, stellt eine Schwester sarkastisch fest.

Ohne eine gesunde Portion Zynismus wäre die Arbeit wohl kaum zu verkraften. Egal, ob die Patienten todsterbenskrank eingeliefert werden oder „nur“ psychosomatische Beschwerden infolge von Lebenskrisen haben: Jeder wird versorgt und kann mit einem Psychiater sprechen.

Unter der provokanten Überschrift: „Der Gulli von Kreuzberg“, hat ein Oberarzt des Urban- Krankenhauses vor einiger Zeit seine Erfahrungen in der Rettungsstelle zusammengefaßt. Es ist ein schonungsloser Bericht. Der Arzt erzählt von Eltern, die ihr zwei Monate altes totes Baby in dem Glauben in die Rettungsstelle tragen, es schlafe heute so tief und fühle sich so kühl an. Vom Sterben eines zum Skelett gewordenen, mit blauroten Flecken übersäten 28jährigen Aidskranken im Beisein seines gleichfalls infizierten Freundes. Von einer 17jährigen Prostituierten, die mit Bauchschmerzen kommt, aber schwanger ist und anderthalb Stunden später im Kreißsaal ein Kind gebiert. Der Säugling wird zur Adoption freigegeben.

Von mißhandelten Kindern und vergewaltigten Frauen berichtet der Oberarzt. Von einer 14jährigen, die zwei Jahre lang von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde und sich mit Rohrreiniger das Leben zu nehmen versuchte. Und er erzählt vom Suizidversuch eines 16jährigen Lehrlings, der als lebloses, ölverschmiertes Bündel in die Rettungsstelle kommt. Der Junge hatte sich aus Liebeskummer vor die U-Bahn am Kottbusser Tor geworfen. Er überlebt mit entstelltem Gesicht, ein Arm und Bein mußten amputiert werden.

Vermutlich voll des Weines wird gegen zwei Uhr morgens ein gepflegter junger Mann mit 2,7 Promille eingeliefert. Er hat keine Papiere dabei, dafür aber 1.900 Mark in bar. Nach dem dem Besuch eines griechischen Lokals war der Mann auf der Straße zusammengebrochen. Eine Schwester versucht ihn durch Ansprache und Klapse aufzuwecken. Eine andere durchforstet sein Notizbuch nach einer Adresse und findet dabei lauter Telefonnummern von Frauen: Nicole, Jeanette, Barbara. „Griechischer Wein“, singt ein Feuerwehrmann und lächelt den Schwestern im Spiegel zu, während er sich die Hände wäscht. Selbst die Androhung, ihn zu den beiden Damen in die Suite zu legen, vermag den Jüngling nicht aus den Träumen zu reißen. Kurz zuvor ging es noch um Leben und Tod. Mit Blaulicht wird eine 70jährige gebracht. Ihr Herzschrittmacher streikt. Ihre Haut ist leichenblaß, die Lippen blauviolett. Der Arzt und die Pfleger rennen. Eine Beatmungsmaschine pfeift. Die Frau kommt auf die Intensivstation.

Im Vergleich zu anderen Diensten verläuft die Nacht sehr ruhig. Bis zum Schichtwechsel am Morgen gibt es acht internistische und vier unfallchirurgische Notfälle. Die Obdachlosen, die gern im Wartesaal übernachten, haben sich nicht blicken lassen. Sie wieder loszuwerden, ist nicht immer leicht. „Wenn man sie auffordert, in eine Wärmestube zu gehen“, erzählt ein Arzt, „klagen sie plötzlich über Schmerzen am Bein, weil sie wissen, daß sie dann bleiben können.“