: Die Geschichte von zwei Kindern
Sie lernen betteln, stehlen, töten: Erick Aufderheyde hat seine Adaption von Agota Kristofs Roman „Das große Heft“ im Theater zum westlichen Stadthirschen als karge szenische Lesung auf die Bühne gebracht ■ Von Esther Slevogt
Mitten im Krieg bringt eine Mutter ihre Zwillingssöhne aufs Land. Die Stadt, aus der sie kommen, wird bombardiert, und es gibt dort nichts mehr zu essen. „Ich möchte nur, daß meine Kinder diesen Krieg überleben“, sagt die Mutter und überläßt sie einer als Hexe verschrienen Großmutter.
Überleben, das begreifen die Jungen schnell, wird nur, wer sich radikal jegliche Empfindung abgewöhnt, also Liebe, Hunger, Kälte, Mitleid, Schmerz. Im Selbstversuch lernen sie statt dessen hungern, betteln, stehlen, erpressen und töten. Um den überlebenswichtigen Blick auf die reinen Fakten zu schulen, führen sie über ihre Aktivitäten Buch. Was von ihnen als „wahr“ anerkannt wird, schreiben sie in „das große Heft“.
Unter diesem Titel erschien 1986, zunächst in französischer Sprache, ein Roman der ungarischen Schriftstellerin Agota Kristof – erster Teil einer Trilogie, die man getrost als Parabel auf die Verrohung des Menschen und die Verkrüppelung seiner Seele in den totalitären Regimen dieses Jahrhunderts lesen kann.
Im Theater zum westlichen Stadthirschen gibt es seit vergangenem Freitag eine Spielfassung des Romans von Erick Aufderheyde zu sehen, der gleichzeitig Regie geführt hat. Theaterfassungen von literarischen Texten, da ist man zugegebenermaßen erstmal skeptisch und fragt sich, ob denn diese seltsam hermetische Erzählweise der Agota Kristof eine Bearbeitung für das Theater überhaupt verträgt. Ob nicht belanglos wird, wenn auf dem Theater plötzlich zu sehen ist, wovon im Roman nur in kalt sezierender Sprache die Rede ist.
Aber die Bedenken verfliegen rasch. Johannes Herrschmann und Dominik Bender als unheimliches Zwillingspaar, das ist zunächst noch etwas gewöhnungsbedürftig. Denn so ähnlich haben Wladimir und Estragon in -zig Godot-Aufführungen schon ausgesehen. Aber die beiden kriegen doch recht schnell die Kurve – und dann ist an dem Abend eigentlich nicht mehr viel herumzumeckern. Die fünf Schauspieler, Ria Dietz-Rödiger als Großmutter, Angela Böhmer und Heinrich Rolfing in wechselnden Rollen und eben Johannes Herrschmann und Dominik Bender erzählen den Text eher, als daß sie ihn spielen. Nur an wenigen Punkten entstehen aus der Erzählung Szenen.
Und während man sieht, wie sich der Text die karge und düstere Szenerie erobert, die Isolde Wittke in die alte Fabriketage und Spielstätte des Stadthirschen gebaut hat, dann erinnert man sich, daß Agota Kristof, bevor sie mit „Das große Heft“ weltbekannt wurde, Theaterstücke schrieb. Und vom Theater habe sie gelernt, sich streng an das Sicht- und Hörbare zu halten. Das ist auch im Programmheft nochmal nachzulesen.
Die Übungen, mit denen sich die Zwillinge im Überleben trainieren, lassen sich später aus dieser Sicht auch wie Übungen für ein radikales Schauspielertraining lesen: Schauspielertraining für ein Theater der Grausamkeit.
Die Geschichte von zwei Kindern, die, statt unterzugehen, lieber zu Monstren werden: Sie stehlen, morden, lügen und betrügen. Aber in der ganz radikalen Beschränkung auf das, was sie als die reinen Fakten ansehen und die der einzige Leitfaden für ihr Handeln sind, entsteht doch in der Grausamkeit manchmal so etwas wie Recht.
Eine Frau, die KZ-Häftlinge verhöhnte, wird umgebracht. Ein bigotter Pfarrer erpreßt, um einer Frau zu helfen. Die Großmutter wird nach zwei Schlafanfällen auf eigenen Wunsch ins Jenseits befördert. Oder wie hieß es bei Brecht? Wir wären gut, anstatt so roh. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.
Bis 10. 11., Fr.–Mo., jeweils 20 Uhr, Theater zum westlichen Stadthirschen, Kreuzbergstraße 37
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen