■ „Bild“-Zeitung weiterhin top in der Lesergunst – warum?
: Die hohe Kunst des Kommentars

11,26 Millionen Menschen lesen täglich Bild, wie die Arbeitsgemeinschaft Medien-Analyse (Amagma) unlängst ermittelt hat. Nahezu jeder siebte Trottel dieses Landes „informiert“ sich somit durch eine Zeitung, die beinahe für nichts gut ist außer für die gewöhnliche rechtsradikale Hetze gegen „Ausländer“, softe Drogenpolitik, Sozialdemokraten, polnische Pkws und all das, was in den schwarz-rot- gold gestrichenen Dummschädel nimmer hineinpaßt. „Gähn, gähn“, werden Sie jetzt denken, doch es bleibt solch Befund ja wahr. Boulevardjournalismus ist Propaganda für das Blöde auf der Welt, und das Blöde ist die Mehrheit. Hierzulande heißt sie, die Verhältnisse korrekt charakterisierend, „Volk“. Gähn, gähn, gähn.

Aber so feist-dreist, so partiell goebbelssch-laut und so grundbescheuert Bild auch auftritt, der wahre Grund für ihren unangefochtenen Spitzenplatz sind ihre Kommentare: Leistungen auf dem Feld politischer Publizistik von wahrhaft avantgardistischen Dimensionen.

Vernachlässigenswert ist der jeweils erste, recht konventionell gehaltene Kommentar, zumal er allzuoft durch den alten Bluthund P. Boenisch verantwortet wird. Sensationelles birgt dagegen jederzeit der zweite Text, ein wie in Knetgummi gehauenes Werkstück eindringlichster Weltdeutung und Ganzheitsphilosophie.

Warum?

Es ist zunächst die Form, die für Innovation und Wagnis steht: nie länger als 21, manchmal 19, aber ab und an 20 Zeilen; zwischen 5 und 8 fett gedruckten Absatzanfängen – knapp, konzis, präzis'. Darüber hinaus manifestiert jedoch die inhaltlich-intentionale Seite zeitungsrevolutionären Geist pur: generelle Lakonie in der Themenbehandlung, gelassen-stoische und doch aufgeklärt-engagierte Sicht auf die Dinge – und: der Mut zur waghalsigen Conclusio.

Beispiele: Am 9.8. 1997 feiert man „Gutes aus dem All“, russisch-amerikanische Kooperation und Satellitenbilder von der Oder – und schließt: „Und hier unten auf Erden? Da streiten die Menschen weiter um kleinkarierte Dinge.“

Das ist aufrüttelnd, das macht wach, ein kaltes Fußbad aus Worten. Paul C. Martin reflektiert etwas später (25.8.) die Rolle von Religion und Kirche im Universum: „Der Papst hat junge Menschen zum Gebet gerufen – und eine Million von ihnen kamen.“ Was uns und dem Bild-Leser dies bedeutet? Martin resümierend: „Die Kirche ist heutzutage die letzte Instanz, die noch Ruhe und Kraft zu vermitteln vermag.“

In keinem anderen publizistischen Organ hat man den Durchbruch zu derart stringentem Ausdruck, zu solch stupender Klarheit der Erkenntnis, zu ähnlich scharf geschliffener Urteilskraft geschafft. Jeden Morgen aufs neue betritt Bild das Neuland der Diktion, den Parnaß gedanklicher Besinnung. 30.8. ad Volker Rühe: „Die Zeiten, da der Hamburger in Bonn ,Volker Rüpel‘ hieß, sind längst vorbei. Auch der politische Gegner zollt Respekt.“ Ende, aus, Eierkuchen. Oder „Eine Chance für die Liebe“ (22.8.): „Steckt mehr Liebe ins deutsche Steuerrecht!“ So hat man das bislang nirgendwo gehört.

Schwerlich jemals übertroffen werden auch Jörg Quoos Anmerkungen zum Berufsstand Postbote (Sie enden: „Ohne ihn wäre unser Alltag ärmer“, 23.8.), abermals P. Martins Ansichten über Hamburgs neue wahlversprochene Polizeitaktik („HÖrt sich gut an. Aber was ist am Montag nach der Wahl?“ 17.9.) und behutsam zugespitzte Nachdenklichkeiten über Voyeurismus im Internet (4.10.): „Andere Zeiten, andere Menschen, andere Sitten...“ (Paul C. Martin)

Welche andere Zeitung, seien wir ehrlich, würde das in dieser Deutlichkeit schreiben?

Na bitte. Jürgen Roth