Verloren in der Universität

■ Die Stimmung bei vielen Studenten ist gedrückt. Orientierungslos treiben sie durch die Uni, irgendwie dem Examen entgegen. Ein Streifzug durch Berliner Universitäten

Der Knabe ist schon ein heftiger Anblick. Mit schwarzem Cape und Knickerbockern eilt er der Seminarbibliothek entgegen. Ganz im Sinne des neuen Uni-Präsidenten. Der hatte bei der letzten Immatrikulationsfeier etwas von Elite erzählt: Sorbonne, Oxford, Humboldt-Universität! Die Hochschule als Stätte universeller Bildung, an der junge Menschen vom Manna- Baum des Wissens naschen.

Doch der junge Mann wirkt irgendwie verloren zwischen all den gepiercten und zottelhaarigen Studenten, die im Foyer der Humboldt-Universität (HU) abhängen. Wenigstens scheint er für sich eine studentische Identität gefunden zu haben. Aber was ist das denn eigentlich heute noch?

Die Pförtnerin mit dem verbissenen Zug um den Mund kann da auch nicht weiterhelfen, sie hat „jar nüscht“ dazu zu sagen, und ihr Kollege mit der SED-Hornbrille schaut, als wollte er einen am liebsten mit dem anderen Pack vor die Türe setzen. Also lieber auf in den sonnigen Innenhof des Hauptgebäudes. Hier erholen sich Studenten vom Mensa-Essen, unter ihnen Isabel Plate. Die Dreiundzwanzigjährige studiert Jura. An eine Art kollektives studentisches Bewußtsein glaubt sie nicht, das sei eher eine individualistische Sache: „In Berlin muß jeder sehr viel mehr als in anderen Uni-Städten schauen, wie er sich definiert.“ In Marburg fühlte sie sich wie in einer abgeschirmten Oase, die Universität und die dazugehörigen Feten bildeten den Mittelpunkt ihres Lebens. In Berlin, wo sich die Studierenden dennoch zwischen 3,5 Millionen Einwohnern verlieren, betreibt sie nun ein Studium generale: Eigenverantwortlich alles ausprobieren und am Ich arbeiten.

Vielleicht sieht das ja in Dahlem ganz anders aus. Doch in der Rostlaube verbreiten diese bläßlichen Sponti-Sprüche à la „Bildung für Alle“ und „Keine Macht für Niemand“ eine ähnlich morbide Stimmung wie die Marmorbüsten in der Humboldt-Uni. Statt der studentenbewegten Protestler von einst wälzen sich jetzt die Massen durch die Endlosgänge. Im Park sitzt ein müde wirkender Student alleine auf einer Bank und fragt gestreßt, wie lange das mit dem Interview denn dauere. Dann ist er doch froh, mal seinen Frust loszuwerden. Bernhard Tietz, 24, Jura, fühlt sich an dieser Universität einfach nicht aufgehoben. Er erzählt von Kommilitonen, die in ihr Examen gehen, ohne je den Prof gesehen zu haben. Die Hemmschwelle, einen Lehrenden aufzusuchen, sei irgendwann zu groß. An der Massenuniversität fehle das, was eine Universität ausmachen würde, völlig: die Kommunikation. Umgeben von Mitstudierenden, die karrierebewußt ihr Studium durchziehen, fühlt er sich eher als Azubi denn als Studierender. Er fühlt sich nicht akzeptiert an der Universtität. Was ist das schon, ein „Studierender“? Auf der Sinnsuche hat Bernhard sogar mit dem Gedanken gespielt, sich bei Burschenschaften umzuschauen.

Der Weg wäre nicht weit, um die Ecke in einer alten Villa sitzt zum Beispiel die Burschenschaft „Der Märker“. Nebenan zieht demnächst Rita Süssmuth ein. In der Tat ist hier auf den ersten Blick nichts von Verunsicherung zu spüren. Die Jungs sitzen gemütlich beim frisch gezapften Bier, es ist Ferienstammtisch und im Nebenraum tagen die „alten Herren“, die Ehemaligen. Die rustikale Einrichtung mit Kronleuchtern, vergilbten Fotos und Fahnen vermittelt den Anschein, daß in diesem Haus die Zeit stehengeblieben ist – ungefähr 1889. Nur eine schüchtern herumliegende Computerdiskette läßt ahnen, daß auch hier die Moderne zugeschlagen haben könnte.

Hier geht es darum, einen Gegenpol zur Anonymität der Massenuni zu setzen. Eine starke Gemeinschaft mit archaisch anmutenden Werten: „Ehre, Freiheit, Vaterland“. Die 22 Studenten verbringen große Teile ihrer Freizeit zusammen, lernen gemeinsam und fechten gemeinsam. Auch wenn sie ihre Uniformen an der Universität nicht tragen dürfen, ziehen sie einen Großteil ihrer emotionalen Bindung an das Studium aus ihrer Gemeinschaft der „Bundesbrüder“. Die Führung durch den Keller offenbart das wahre Gesicht der vermeintlichen Geborgenheit: Eine Karte mit den deutschen Reichsgebieten hängt drohend an der Wand, und von diversen Fotos grinsen blutüberströmt junge Männer mit Schmissen. Schnell weg.

Dann doch lieber desintegriertes Studium. Auf der Suche nach dem verlorenen Studierenden kam es zum Plausch mit der netten Bibliothekarin an der FU. Bei ihr lag so etwas Trauriges in der Stimme. An der Theke hing eine Todesanzeige einer „ihrer“ Studentinnen. Ich hätte sie am liebsten umarmt. Martin Reichert