: Klänge aus Eis
■ Battistellis moderne Oper „Entdeckung der Langsamkeit“leistet furiose Zivilisationskritik
Mit geheimnisvollen Klangflächen, die sich jeglicher stilistischen Zuordnung entziehen, scheint der italienische Komponist Giorgio Battistelli archaische Zustände beschwören und hervorrufen zu wollen. Der 1953 in der Nähe von Rom geborene Komponist hat in einer Zeit, in der es keinen verbindlichen Stil mehr gibt, in der eine wie auch immer geartete „Postmoderne“nicht mehr opportun erscheint, eine ganz eigene Sprache gefunden. Ihn interessiert, sagte er einmal, nicht die Reinheit, sondern die Unreinheit eines Stils. Und nicht nur das, die Werke des Henze-Schülers und Leiters des Musikfestivals in Montepulciano, das berühmt ist für seine „Volksnähe“, entspringen immer auch einem konkreten sozialen Anliegen: Jüngst wurde im Rahmen des Musikfestes sein „Experimentum Mundi“aufgeführt, das Battistelli für die Handwerker seines Heimatdorfes geschrieben hat. Ein gewisser Eklektizismus ist nicht zu überhören, allerdings einer, der unterschiedliche Stile als Zeichen unterschiedlicher Wirklichkeiten schichtet.
Praeludium, Etüde, Ricercar, Perpetuum Mobile und Molto Lento heißen die Bilder der jetzt am Bremer Goetheplatz-Theater uraufgeführten Oper „Die Entdeckung der Langsamkeit“. Sten Nadolnys Kultroman der achtziger Jahre über den Polarforscher John Franklin, der so langsam war, daß er als Kind nicht mal einen Ball fangen konnte und sich infolgedessen anders einrichten mußte, scheint sich vordergründig einer Vertonung zu entziehen. Gleichwohl hat sich Battistelli mit dieser Art von Zivilisationskritik identifiziert. Aber das, was jetzt zu hören war, hat mit dem Roman kaum etwas zu tun. Michael Klügl hat ein Libretto für Chor, vier männliche Rollen und einen Erzähler eingerichtet, das zentrale Erlebnisstationen des unglücklichen Franklin nachvollzieht: Die Kindheit, das Töten im Krieg, die Expedition ins Eis mit ihren Hungerhalluzinationen, die Konfrontation in der Großstadt London und bei der erneuten Expedition den Tod im Eis.
Battistellis ebenso kantable wie schlagzeuglastige Musik überzeugt durch ihre expressive Kraft, durch ihre quasi dramaturgische Funktion, wie sie sich in die Gefühle des armen Franklin einklinkt: Wenn beispielsweise Chöre bedrohlich aus dem Off kommen, gleichsam als Franklins Unterbewußtsein. Immer wieder findet der Komponist, durchaus gebrochen, Erinnerungen an uralte Gesten und Zeichen in Form von Intervallen, Melodien und Rhythmen, die sich mit einer Henzeschen Expressivität meist eigenständig (aber nicht immer) mischen – scheinbar unendlich in die Zeit gezogen.
Der luxemburgische Regisseur Frank Hoffmann hat einen entsprechend gebrochenen Darstellungsstil gefunden, einen bewußten Wechsel von Realismus (so die Bilder der verzweifelten Truppe im Eis) und Abstraktion (so die grell-graue Londoner Marionettengesellschaft). Dieser Stil erlaubt ihm eine stete Doppeldeutigkeit. Nirgends ist so viel inneres Leben wie in der existentiell extremen Situation der Expedition ins Eis und nirgends so viel inneres Eis wie in den oberflächlichen Lustbarkeiten der Großstadt. Stark auch das Bild des Krieges, in dem Franklin einen Dänen erwürgt, weil er nicht aufhören kann, zuzudrücken. Die Zeitlupenbewegungen der Soldaten entsprechen der zunehmend verwirrten Wahrnehmung Franklins.
Kongenial dazu das Bühnenbild von Ben Willikens, dessen klare Formen und symbolträchtige Farben deutliche Zeichen innerer Vorgänge sind. Nicht nur John Franklin zerbricht an und verwaist in dieser Welt – mitreißend gespielt und gesungen von Ron Peo. Battistelli und das bremische Produktionsteam haben es verstanden, das Sujet sehr nah zu vermitteln. Der Dirigent Günter Neuhold, nun nach dem Fidelio-Desaster wieder lächelnd, und das Philharmonische Staatsorchester schärften die Heterogenität der Battistellischen Musiksprache als deren eigentliche Qualität: Eine aufregende und überzeugende Uraufführung dieses Auftragswerkes des Bremer Theaters, an der der vortreffliche Chor ebenso entscheidenden Anteil hatte (Leitung Theo Wiedebusch) wie die weiteren Solisten Caspar Fawden, Andres Reblin, Loren Christopher Lang, Burghart Klaußner und Mateng Pollkläsener. Viel Beifall und keine Buhs: Die Frage, ob das skeptisch machen sollte, wollen wir hier nicht beantworten. Stattdessen möchten wir dazu anregen, das Stück selber zu sehen.
Ute Schalz-Laurenze
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