Freifurzen oder lieber doch denken?

■ Tenever irgendwie auch: Der 2. Bremer Kongreß „Interkulturalität“widmete sich der Suche Chancen und Grenzen des vernünftigen Dialogs zwischen den Kulturen / Eine Debatte mit vielen verschiedenen Akzenten

Die Vernunft, jenes einzigartige Vermögen, das den Menschen vom übrigen Getier – na zumindest von seiner Kaffeemaschine unterscheiden soll, sie ist in eine gewaltige Krise geraten. Wo Kant & Co noch glaubten, die Etablierung vernünftiger Diskurse führe zur Befreiung des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, wird heutzutage gerade die Vernunft als Quelle von Bevormundungen, Unterdrückung, Gefühllosigkeit und Einförmigkeit gegeißelt. Menschenwürdige Verhältnisse, zumal zwischen den Kulturen, worauf sollen sie sich aber gründen, wenn die Vernunft als universale Vermittlungsinstanz ausfällt?

Ein zunehmend großer Teil sucht die Antwort auf diese Frage auf Kongressen, die sich etwa „Visionen menschlicher Zukunft“nennen. Ganzheitlich träumt, schreit, furzt und spürt man dort die Probleme der Menschheit hinfort, channelt sich in Gralswelten oder die x-te Dimension und quatscht mit Erzengeln und dem Geist von Wilhelm Reich über das ewige Leben an Gottes Seite. Wüßte Kant davon, auf einen dicken Holzknüppel würde er den kategorischen Imperativ ritzen, um mit ihm das gewaltige Vakuum zwischen den Ohrmuscheln jener UnsinnsucherInnen durch kurze Schläge auf den Hinterkopf zu vertreiben.

Aber Kant lebt nicht mehr, und Gewalt ist zumeist keine gute Argumentationshilfe. Bleibt also nur die Philosophie, jene Gelatine unter den Wissenschaften, die mühsam zu stabilisieren sucht, was von allen Seiten fortwährend der zersetzenden Kritik ausgesetzt wird: Die Suche nach dem einigenden Band des besseren Arguments.

Eben dieser Suche widmeten sich die 180 TeilnehmerInnen des 2. Bremer Kongresses „Interkulturalität“, der – parallel zum Visionenkongreß – an der Uni Bremen stattfand. Nicht ein Konflikt multikultureller Gesellschaften und interkultureller Verständigungsversuche, der im Verlauf der Tagung angesprochen wurde, wurde auch gelöst. Und hätten BewohnerInnen aus Kattenturm und Osterholz-Tenever den Kongreß besucht, vermutlich wären sie nicht mit dem Eindruck nach Hause gegangen, „ihre“Probleme seien dort verhandelt worden.

Es waren nunmal in der Mehrzahl PhilosophInnen, die da miteinander sprachen, und deren Sprache ist in der Tat selten die der Menschen, über die sie reden. Doch hier die Lektüre dieses Artikels abzubrechen, nur weil man kein Philosoph ist, wäre womöglich nachvollziehbar, aber trotzdem falsch. Denn wer die Auffassung teilt, daß selbst der banalste Streit zwischen Menschen verschiedener Kulturen am besten dadurch zu lösen ist, daß man ihn auf mögliche zugrundeliegende Prinzipien zurückführt, der begibt sich schon auf den Weg der Philosophie. Und wenn man zudem die Hoffnung hat, daß es jenseits aller Unterschiede zwischen Kulturen benennbare Gemeinsamkeiten gibt, dann ist man bereits mitten im Kongreß „Interkulturalität“und redet in diesem Sinn auch über die soziale Wirklichkeit von Osterholz-Tenever.

Im Laufe der vier Kongreßtage wurde vor allem deutlich, wie unterschiedlich die Konfliktlösungsstrategien in den jeweiligen Kulturkreisen sind und vor welche praktischen Probleme sich ein Dialog in und zwischen ihnen gestellt sieht. Die Unmittelbarkeit etwa, mit der die ReferentInnen aus Afrika (Tanella Boni u. Yacouba Konatè) an genau die Ideen anknüpften, die westliche PhilosophInnen einst feierten und mittlerweile als Ursache für Krisenphänomene moderner Gesellschaften ausmachten, war bemerkenswert. Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit sollen die Menschen aus den traditionalistisch-patriarchalen Strukturen vieler afrikanischer Länder befreien. Zur gleichen Zeit debattierten die VertreterInnen aus dem Westen darüber, wer denn da wie, wozu, woraus und ob überhaupt zu befreien sei. Während Frau Boni darüber sprach, wie die Männer ihrer Heimat Elfenbeinküste dazu gebracht werden könnten, sich an der Kindererziehung zu beteiligen, diskutierten die WissenschaftlerInnen aus dem Westen, ob es Männer und Frauen überhaupt gibt, oder ob das Geschlecht nicht vielmehr das Produkt einer willkürlichen sozialen Zuschreibung sei, wie die radikale Konstruktivistin Judith Butler meint.

So konkret die afrikanische und so abstrakt die westliche Debatte auf den ersten Blick wirkte, so nahe waren sie sich im Grunde bezüglich ihres programmatischen Anspruchs. Um die Befreiung aus sozialen Mißständen, Aufklärung also, ging es beiden. Die radikale Infragestellung der Geschlechterdifferenz ist dabei kein Luxusproblem, sondern die konsequente Fortführung der Fragestellung, die mit Bonis Thematik ihren Ausgang nimmt. Daß sich das aufklärerische Projekt in den jeweiligen Gesellschaften und Kulturen mit ganz unterschiedlichen Problemen konfrontiert sieht, ist allenfalls ein Indiz für Ungleichzeitigkeiten, nicht aber für Fragestellungen, die nichts gemein hätten.

Der letzte Tag des Kongresses widmete sich dann handfesten Problemen der interkulturellen Bildung in den Schulen. Schnell wurde deutlich, daß die reale Welt von den Ansprüchen der Philosophie sowie einer Gesellschaft, die diese Probleme gerne als gelöst erklärt, nicht bestehen kann. Gleich zu Anfang kam Hatice Aksoy, ehemalige Referendarin an einer Schule in Herne, mit ernüchternden Einsichten zu Wort. Nichts war mehr zu spüren von der an den Tagen zuvor schon fast zur Selbstverständlichkeit gewordenen Multi- und Interkulturalität des Denkens. Von „Mitleid“seitens der inländischen Bevölkerung mit den „unterdrückten“AusländerInnen, Schwierigkeiten der sprachlichen Verständigung trotz zweiter oder dritter Generation hier lebender AusländerInnen und vom alten Problem der sozialen Schichtungen war hier viel zu hören. Die Rede vom Abfinden der „ausländischen“Jugendlichen mit der Rolle der Fremden mag den Philosophen erschüttert haben, der noch zwei Tage zuvor die Selbstverständlichkeit der Interkulturalität transzendentalphilosophisch erkannte. Doch auch die Zweischneidigkeit des Fremdenhasses fand ihren Platz – nicht nur die inländischen Jugendlichen brächten diesen ihren ausländischen MitschülerInnen entgegen, auch umgekehrt. So wurde die Vielschichtigkeit der Problematik wieder auf den Boden der Realität zurückgeführt und war an dem Punkt angelangt, an dem alles philosophische Denken seinen Endpunkt finden sollte. Eigentlich wäre die darauf folgende Anmahnung daran seitens Morteza Ghasempur, am philosophischen Seminar in Köln tätig, nicht notwendig gewesen. Und auch die phantasievollen pädagogischen Ideen von Peter Graf aus Osnabrück schienen angesichts dieser Problematik erst einmal vor der Wirklichkeit gescheitert. Nur Jürgen Hengelbrock aus Bochum brachte am Ende mit seinen Plattitüden („Wer nicht geliebt wird, wird zum Fundamentalisten.“) Humor in die Veranstaltung, auch wenn es eigentlich nichts dabei zu lachen gibt. jojo/zott