Marionette mit Hut und Zigarre

Vexierbild portugiesischer Geschichte: António Lobo Antunes' „Handbuch der Inquisitoren“  ■ Von Fritz Rudolf Fries

Wer das neue Buch des portugiesischen Erzählers António Lobo Antunes zur Hand nimmt, ohne die anderen fünf zu kennen, die ins Deutsche übersetzt vorliegen, mag mit der Machart des Romans seine Schwierigkeiten haben. Ist es überhaupt ein Roman? Die Gattungsbezeichnung fehlt, als hätten wir es mit der Mutmaßungsprosa eines Uwe Johnson zu tun. Und wer erinnert sich noch an die der Einsteinschen Relativitätstheorie verpflichteten Prosa eines John Dos Passos?

Wir haben es zu tun mit einem „Handbuch der Inquisitoren“, das der 1942 in Lissabon geborene Arzt und Erzähler, der im Angolakrieg „unfreiwillig“ lange kämpfende António Lobo Antunes vorlegt. Eine Geschichte mittelalterlicher Finsternis also und ein Tanz der Gespenster, die auf der Iberischen Halbinsel bekanntlich die Vergangenheit zur Gegenwart machen. Aufgabe der Literatur ist es, sie zu vertreiben. Der Erzähler hält sich zurück. Kaum daß er sein Spinnennetz weben muß, darin sich die Figuren verstricken. Sie laufen freiwillig hinein, und die Mühe, die er hat, und die er uns nicht erspart, besteht darin, ihre Stimmen zu registrieren und auseinanderzuhalten. Eine Partitur entsteht so, die nach Akustik verlangt. Hörspielautoren werden sich bei der Lektüre ans Ohr fassen, dies Geflecht aus Meinung und Gegenmeinung, diese oft ohne Punkt und Komma collagierten Sätze innerhalb der 28teiligen in „Bericht“ und „Kommentar“ zusammengefügten Erzählung als eine Funkerzählung zu präsentieren. Freilich mit dem Risiko, daß die stereotype Wiederholung ins Nichts der Langenweile ausläuft.

Lobo Antunes, der Erzähler im Arztkittel, registriert die Anamnese seiner Figuren und macht sich insgeheim lustig, wenn sein „Handbuch der Inquisitoren“ die gegenwärtige Flut literarisierter Selbstaussagen und Rechtfertigungen parodiert. Deutsche Leser werden ihm da gut folgen können: Die Figuren am Abgrund haben es mit den Schlacken einer überwundenen Diktatur und mit der Gegenwart einer selbstherrlichen Demokratie zu tun.

„Die Russen haben Portugal erobert Sofia wenn du es nicht glaubst mach das Radio an (...) und im Radio hörte man Militärmärsche und Lieder über das Volk und die Freiheit und das fehlende Brot (...) und meine Mutter ließ die Türen und die Fenster schließen, damit die Kommunisten nicht ohne weiteres hineinkommen...“

Die zentrale Achse aller Aussagen dreht sich um den April 1974; denn wir sind im Portugal der „Nelkenrevolution“, als das Militär das faschistische Regime stürzt. 1968 hatte es der Premier Caetano aus den Händen des erkrankten Antonio de Salazar (1889–1970) übernommen. Die anderen Figuren des portugiesischen Grand Guignol werden im „Handbuch“ nur flüsternd genannt; es sind der „Major“ und Chef der Geheimpolizei PIDE; der „Admiral“ und Präsident der Republik; und der Gegenkandidat Humberto Delgado, der bei seiner Rückkehr nach Portugal aus spanischem Exil ermordet wird.

Inkarnation dieser Herren ist der Salazar-Vertraute Francisco, Amtsinhaber und paternalistischer Großgrundbesitzer, eine Marionette mit Hut und Zigarre. – „Ich mache alles, was sie wollen, aber den Hut nehme ich nie ab damit klar ist wer das Sagen hat.“ Er ist der Vater des sich vor Wölfen und Dunkelheit fürchtenden Sohnes João und seiner illegitimen Schwester Paula. Als seine Ehefrau Isabel mit dem besten ihrer Liebhaber durchbrennt, überfallen Impotenz und Melancholie den Mächtigen. Er stößt an die Grenzen seiner Macht, als es mißlingt, den Liebhaber mit Hilfe der Staatssicherheit zur Strecke zu bringen. Im Alter sitzt der abgesetzte Grandseigneur mit seinesgleichen im Altersheim und sinnt auf eine Restauration der Verhältnisse. Aus der Demütigung der finalen Lage („Pipi machen Sie kleiner Schwerenöter aber nun mal los!“) flieht er in die Sehnsucht nach Liebe. Seine letzte Geliebte hatte er, die Zeiten wie die Frauen verwechselnd, in die Garderobe seiner entschwundenen Ehefrau gekleidet. Und da er seinen Sohn, einen Ingenieur, der in Scheidung lebt, nicht für fähig hält, ihn aus dem Altersheim zu befreien, hofft er auf die Tat seiner einstigen Köchin und Geliebten Titina. Doch sitzt sie selber in einem Heim und hofft ihrerseits, von ihrem einstigen Brotherrn befreit und in die alten Verhältnisse heimgeführt zu werden.

Hier kulminiert Lobo Antunes' „Handbuch“ zu einer Tragikomödie, wie sie kaum ein anderer Autor zustande brächte. Wie nebenbei liefert er eine Studie über die Korrumpierbarkeit der Macht. Denn als sich im Polizeistaat Salazars und Caetanos der Wahn verbreitet, die Russen hätten Portugal überfallen und in Besitz genommen, vertreibt der Großgrundbesitzer Francisco seine Untergebenen mit äußerster Brutalität. Sie alle sind in seinen Augen „Kommunisten“, auch die Köchin Titina, und noch ehe die Militärs an eine Agrarreform denken können, verfällt das Landgut wie von einem Mongolensturm verwüstet. Am Ende zeigt sich, die Militärs haben für einen Anschluß Portugals ans reichere Westeuropa gesorgt, und aus dem Landgut wird ein Touristeneldorado werden.

Schade nur, daß das „Handbuch der Inquisitoren“ in seiner polyphonen Dokumentation den Revolutionären mit der Nelke im Gewehrlauf keine Stimme läßt und die „kleinen Leute“ sich zwischen Korruption und Anpassung bescheiden müssen.

Diese Widersprüche und Brüche sind dank einer abgestuften Sprache teils surreal überkoloriert, teils emotional geglättet. Im letzten Drittel des Buches erlahmt die Aufmerksamkeit. Spätestens hier habe ich mich nach den kalkulierten Spannungsbögen des traditionellen Romans gesehnt, der dem Leser zuletzt noch mit einer ungeahnten Überraschung Vergnügen bereitet. Die Quintessenz des „Handbuchs“ aber ist lange vor der letzten Seite begriffen. Am Ende steht die ein wenig weinerliche Erkenntnis, daß auch Inquisitoren wie Francisco sich nach Harmonie und Liebe sehnen. Der letzte Satz des Buches, der einen Wunsch des moribunden Grandseigneurs nicht zu Ende bringt, lautet: „Ich bitte Sie, vergessen sie nicht dem Trottel von meinem Sohn zu sagen, daß ich ihn trotz allem“ – und wie beim Quiz ergänzt der bereitwillige Leser das Zauberwort: „liebe“. Und schon strahlt der getrübte Himmel Portugals (und der des Lesers) in göttlicher Bläue?

„Das Handbuch der Inquisitoren“ wird zu Recht im Mittelpunkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse stehen, die Portugal gewidmet ist. Man muß den Autor deshalb nicht gleich zum Nobelpreis vorschlagen. Es ist in der bewunderswerten Übersetzung das beste ausländische Buch auf dem deutschen Markt, der die einheimischen Produkte zum Ramsch freigibt.

António Lobo Antunes: „Das Handbuch der Inquisitoren“. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand Literaturverlag, München 1997, 457 Seiten, 48 DM