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Realismus und Poesie

■ Kompromißlos: Die Rock-Entwürfe von Sleater-Kinney und Helium

Ganz geheuer ist Sleater-Kinney die Situation nicht. Da sitzen sie in einem Restaurant in New Yorks schicker Upper Westside, weisen den Kellner darauf hin, daß er sie doch bitte Mademoiselle statt Madame nennen soll, wenn er denn schon französisch radebrechen muß, und gleich sollen sie noch mal schnell CNN ein Interview geben. Sleater-Kinney – eine weitere Band aus dem US-Underground. Und ein Nachrichtenthema. Schon weil bei ihren Konzerten Mädchen schreien: „I love you!“

Das macht ihnen zu schaffen. Denn die drei Frauen, die ihre Homebase in der Riot-Grrrl-Kommune im Nordwesten der USA haben, sind angetreten, um Rollenmuster zu zerstören. Doch weil sie in einigen Songs die gleichgeschlechtliche Liebe zum Thema gemacht haben, sind sie auf einmal Vorbild junger Lesbierinnen – und Projektionsfläche für die Mainstream-Medien. „Ich habe nichts dagegen, als Rollenmodell zu fungieren, wenn ich so anderen Frauen zeigen kann, welches Potential in ihnen steckt“, sagt Sängerin Corin Tucker. „Aber auf einmal glaubt jeder, sich ein Bild von mir machen zu können. Dagegen habe ich mich ja immer gewehrt: kategorisiert und katalogisiert zu werden.“

Selbstironisch nennen sich Sleater-Kinney in einem Song „mother's little helper“, und in „Call The Doctor“beschreiben sie, wie Weiblichkeit pathologisiert wird. Passenderweise haben sie eine eigene Sprache im Rock entwickelt. Die beiden Gitarren pitchen sie in höchste Frequenzen, und mit ihrem Extrem-Tremolo flutet Corin Tucker gleichsam den Raum. Vielleicht weiß ich als Typ gar nicht genau, wovon sie singen – genau aber weiß ich: Die drei Konzerte, die ich von ihnen sehen durfte, gehörten zum schönsten, was der Rock in den letzten Jahren hergegeben hat. Sleater-Kinney vermeiden alle Klischees, obwohl ihre Musik hundert Prozent Rock ist. Ein Glücksversprechen. Und das kann leider eben auch zum Verhängnis werden.

Wie ein Glücksversprechen nimmt sich auch die Musik von Helium aus.The Magic City hat die Band um Mary Timony ihr neues Album betitelt, aber die magische Stadt findet keiner der Figuren, die durch ihre Lieder straucheln. Hänger und Spinner sind das, die vor der Wirklichkeit in Eskapaden flüchten. Auch Mary Timony entlarvt mit ihrem explizit weiblichen Songwriting das Klischee, indem sie es in den Vordergrund schiebt. Wie die kunterbunten Keyboard-Sounds, die in ihren neuen Songs zur Oberfläche der komplexen Kompositionen streben. Poesie und Realismus – für Sleater–Kinney und Helium zwei Seiten einer Medaille.

Christian Buß

mit bis: So, 19. Oktober, 20 Uhr, Logo

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