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Die Zensur wird privatisiert

In Großbritannien warten die Internetprovider nicht mehr auf den Staatsanwalt. Sie kontrollieren selbst, was auf ihrem Rechner liegt, und holen dann die Polizei

Auch der jüngsten Organisation der freiwilligen Selbstkontrolle Großbritanniens liegt die tote Diana am Herzen. Das „Internet Content Register“ (ICR) berichtete am 24. September über eine Website, die der Urheber selbst löschte. Das ICR hatte sowohl Polizei als auch den Provider informiert, daß auf der Site ein gefälschtes Foto von Lady Diana im Unfallwagen im Pariser Tunnel zu sehen sei. Das Foto sei nicht nur „respekt- und geschmacklos“, bemängelten Vertreter von ICR, es sei auch gefälscht. Auch andere Fotos auf der Site seien ohne Rücksicht auf Urheberrechte aus Printmedien übernommen worden. Als Irreführung müsse außerdem betrachtet werden, daß eine Gebühr für Fotos verlangt wurde, die dann aber gar nicht einsehbar waren.

Das Eingreifen des ICR hat in diesem Fall wohl niemanden gestört. Doch den britischen Internet Service Providern (ISPs) geht es um mehr. Sie entwickeln zunehmend Kriterien und effiziente Mechanismen der Kontrolle im Netz. Das Internet wird zu einem Forum, in dem private Anbieter und deren Vertreter entscheiden, was veröffentlicht werden darf.

Mit der Gründung von ICR taten verschiedene Wirtschaftsberater, Fachleute aus der Werbebranche und Nutzer einen Schritt in diese Richtung. Der nach eigenen Angaben selbstfinanzierten und unabhängigen Organisation sollen ISPs kostenlos beitreten, um im Gegenzug eine Art Gütesiegel für ihren Service ausgestellt zu bekommen. Das Gütesiegel, verspricht das ICR, sei eine Garantie dafür, daß obszöne und illegale Materialien bei dem Provider gar nicht, problematische Fälle nur nach einer Warnung zugänglich sind.

Anlaß der Gründung der Organisation im August letzten Jahres sei gewesen, daß einige Provider der polizeilichen Aufforderung, bestimmte Newsgroups zu sperren, nicht nachgekommen seien. Das ICR wolle, so ist auf seiner paßwortgeschützten Webpage (www.icr.co.uk) zu lesen, dazu beitragen, daß ISPs dem Gesetz Folge leisten. Das Netz soll nicht nur von Kinderpornographie und illegalem Material gesäubert werden, das die Polizei angezeigt hat. Es geht den Organisatoren auch darum, den Handel über das Internet besser zu kontrollieren und Urheberrechte zu wahren. Der Appell ist an die Internet Service Provider gerichtet, die davor gewarnt werden, einer Handvoll Individuen die Mittel in die Hand zu geben, „den Ruf der Internetgemeinschaft zu korrumpieren und zu zerstören“.

Das ICR steht nicht allein. Auch die letzten Herbst gegründete Internet Watch Foundation (IWF) will eigene Gütekriterien entwickeln. Die Initiative richtete im Dezember 1996 eine Hotline ein, bei der Netzbenutzer 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche Sites melden, die ihnen illegal erscheinen (www.ifw.co.uk). Bis Juli 1997 gingen etwa 300 Beschwerden über 1.200 Sites ein. IWF untersuchte die Sites eigenständig, und die angeschlossenen ISPs wurden aufgefordert, 700 von ihnen zu löschen. Außerdem wurde die Polizei informiert.

Leider erklärte sich IWF nicht bereit, zu veröffentlichen, um welche Sites es sich dabei handelt. Auffällig ist nicht nur, daß die Organisationen von Providern zusehends Eigeninitiative an den Tag legen. Auch die Kriterien für die Sperrung und Löschung von Websites werden undifferenzierter. Die IWF behauptet, es gehe vor allem um Bilder von Kindern, die dem Anschein nach jünger als 16 sind und die in eine sexuelle Aktivität involviert sind“ oder „nackt und sexuell provozierend dargestellt“ werden. In einer Erklärung des ICR heißt es sogar, daß Konsumenten sicher sein müßten, daß eine Site „ehrlich, anständig und dem sicheren Handel verpflichtet“ sei.

Die Folge ist, daß bereits heute von Selbstkontrollorganen oder Providern immer häufiger Sites gesperrt werden, über deren Inhalte man sich streiten kann. Schon im letzten Jahr veranlaßte Scotland Yard unter anderem die Sperrung einer Newsgroup, in der Homosexuelle miteinander Kontakt aufnehmen wollten. In den USA geschah dies im September 1997 mit einer Site, die über Serienmörder und deren Motive informieren wollte. Am 17. September schließlich sperrte der Provider „Easynet“ die Site der englischen „Kampagne für Internet Freedom“, weil dort das baskische Online-Magazin Euskal Herria gespiegelt war. Das Online-Magazin mit Sitz in New York war seinerseits von seinem Provider in den USA gesperrt worden, weil eine Flut von Beschwerde-E-Mails über Euskal Herria das gesamte Netz zum Stillstand gebracht hatte. Euskal Herria unterstützt die baskische Unabhängigkeitsbewegung und veröffentlicht unter anderem Landkarten der Region, Cartoons und eine Online-Petition an die spanische Regierung.

IWF und ICR sehen darin freilich keine Zensur. „Wir beabsichtigen nicht, irgend jemanden davon abzuhalten, im Internet zu veröffentlichen“, steht auf der Homepage. Es gehe um die Meinungsfreiheit derjenigen, die Informationen ins Netz bringen wollen, aber auch darum, den Konsumenten die Wahl zu lassen, die Dinge zu sehen, die er sehen will. Der „Code of Practice“ erläutert, was damit gemient ist. Danach sollen Informationen nur für das „passende Publikum“ zur Verfügung stehen. Möglicherweise anstößiges Material soll gekennzeichnet und der zufällige Zugang zu solchen Inhalten durch Sicherheitsmechanismen verhindert werden. Links zu externen Sites sollen ebenfalls überprüft werden.

Chris Ellison, Mitbegründer der „Internet Freedom“-Kampagne (IF), ist besorgt über diese Entwicklung. Die Kampagne wurde im August 1996 mit dem Ziel gegründet, sich gegen die Zensur des Internets zur Wehr zu setzen. Für den jungen Computerspezialisten sind die Argumente derjenigen, die den Schutz vor Pornographie, potentiell illegalem und unanständigem Material ins Zentrum stellen, wenig überzeugend. Es habe sich gezeigt, daß Scotland Yard im letzten Jahr von ganzen 16.000 Newsgroups im Internet nur 133 als illegal ausmachen konnte. Viel bedrohlicher als ein paar Sites, die noch dazu schwer für Kinder zugänglich sind, findet Ellison, daß der freie Meinungs- und Informationsfluß im Internet immer weiter eingeschränkt wird.

Deshalb richtet sich die Kampagne nicht nur gegen die zunehmende Selbstzensur von Internetprovidern, sondern auch gegen die Sperrungsmechanismen und Kennzeichnungen, die IWF und ICR einführen wollen. Im Mai 1997 startete IF daher die Initiative „PICS-Free“ (Plattform für Internet Selection), die sich gegen die Anwendung derartiger Technologien richtet. Seine Initiative habe bereits jetzt, sagt Ellison, den Nachweis führen können, daß solche Systeme wesentlich weitreichendere Konsequenzen haben als in der Vergangenheit die Zensur von Büchern. Christine Horn

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