piwik no script img

„Man denkt, es macht total viel Spaß“

Harte Arbeit führt zu künstlerischer Leichtigkeit: die Ukrainerin Elena Witrischenko und die Russinnen Lipkowskaja und Bartischina heimsen die Titel bei den Weltmeisterschaften der Rhythmischen Sportgymnastik ein  ■ Aus Berlin Matti Lieske

„Ab 17 kann man Ausdruck entwickeln, eine Geschichte erzählen, die in Erinnerung bleibt“, sagt Livia Medilanski. Dann läßt die aus Siebenbürgen stammende Bundestrainerin, die seit 25 Jahren die Rhythmische Sportgymnastik hierzulande prägt und ziemlich schnell ins Schwärmen gerät, wenn sie über ihre Passion spricht, flugs die besten Teilnehmerinnen der Weltmeisterschaft Revue passieren. Julia Raskina (15) aus Weißrußland, fünfter Platz im Mehrkampf: „Sagt mir nichts.“ Elena Witrischenko (20) aus der Ukraine, die Siegerin: „Da weiß ich noch ein Woche später, was sie geturnt hat.“ Natalja Lipkowskaja (18) aus Rußland, die Zweitplazierte: „Sie hat etwas Tragisches. Auch das bleibt hängen.“ Magdalena Brzeska (19), Zehnte: „Da erinnere ich mich, wie sie mit dem Seil gekämpft hat.“ Janina Batirschina (18) aus Rußland, dritter Platz: „Lebendig.“ Teodora Alexandrowa (16) aus Bulgarien, Sechste: „Da entsinne ich mich ich nur an Drehungen“. Kein Zweifel, das Herz von Livia Medilanski schlägt für die Kunst.

Diese wurde seit den Olympischen Spielen von Atlanta deutlich aufgewertet in der Rhythmischen Sportgymnastik, die gern als femininste Sportdisziplin bezeichnet wird. Man könnte auch sagen, feministischste. Ein Sport von Frauen für Frauen. Im Gegensatz zu den meisten anderen von Frauen ausgeübten Sportarten, wo die wichtigsten Posten in der Regel von Männern besetzt sind, haben die Gymnastinnen fast durchweg Trainerinnen. Weiblich ist das Kampfgericht, weiblich geprägt die Funktionärsriege, größtenteils weiblich ist auch das Publikum, das die Max-Schmeling-Halle mit ihren 6.500 Plätzen an den drei WM- Tagen nahezu füllte. Eine Konstellation, wie sie vor allem die amerikanischen Fernsehsender lieben, die stets bestrebt sind, Frauen für den TV-Sport zu begeistern. Bei den Olympischen Spielen erzielten die Gymnastikwettbewerbe die zweithöchsten Einschaltquoten – über die Geschlechtszugehörigkeit des Publikums vor der Mattscheibe besteht kaum ein Zweifel.

Um diesen Trend weiter voranzutreiben, wurden einige Regeländerungen vorgenommen. Die Turnerinnen dürfen buntere Kostüme mit allerlei Glitzerkram tragen und die statischen Elemente der Übungen wurden stark eingeschränkt. Bei einem bloß 90 Sekunden langen Auftritt wirkt es schließlich nicht sehr telegen, wenn die Athletin auf einem Bein herumsteht und weiter nichts tut. Früher wurde dies gefordert, mittlerweile gibt solches Treiben Punktabzüge, die Übungen gewinnen an Dynamik und Attraktivität. Eine höhere Bewertung des künstlerischen Ausdrucks bevorteilt ganz im Sinne von Livia Medilanski jene Gymnastinnen, die „eine Geschichte erzählen“ können, sprich: die älteren. Das schlug sich auch in Berlin nieder, wo das Durchschnittsalter der 15 Mehrkampfbesten immerhin 18,2 Jahre betrug.

Sie habe ihre Darbietung seit Olympia, wo sie Dritte wurde, sehr verändert, sagt zum Beispiel Elena Witrischenko, die gestern noch drei Goldmedaillen in den Gerätefinals holte. Mehr Schwierigkeiten, mehr Kunst seien hinzugekommen. „Ich bin eben älter geworden, erwachsener.“ Für Magdalena Brzeska ist die Ukrainerin schlicht „die beste Gymnastin der Welt, eine Perfektionistin.“ Teamkollegin Edita Schaufler, Neunte im Mehrkampf, hält es allerdings eher mit Janina Batirschina, die ebenso wie Lipkowskaja zweimal Gold in Berlin gewann: „Schwierig, superschnell und leicht“, schwärmt die 17jährige über die Russin, „man denkt, es macht ihr total viel Spaß.“ Genauso soll es auch sein, meint Elena Witrischenkos Mutter Nina, gleichzeitig ihre Trainerin. „Man arbeitet hart, damit es wie künstlerische Leichtigkeit aussieht.“

Ein kleiner Hinweis auf die dunklere Seite der Rhythmischen Sportgymnastik, die ebenso wie das Kunstturnen viele Kritiker hat. Auch Elena Witrischenko vergißt nicht, auf die „harte Arbeit“ zu verweisen, die hinter ihren Erfolgen steckt. 36 bis 40 Stunden trainiert sie pro Woche, ebenso halten es ihre russischen Kolleginnen. „Plus Choreographie“, fügt Batirschina lächelnd hinzu. Trainerinnen wie Nina Witrischenko oder Livia Medilanski wachen streng darüber, daß dieses Pensum eingehalten wird. Mögen sie auch noch so charmant plaudern, in der Trainingshalle verstehen sie keinen Spaß. „Leistung kennt keine Milde“, sagt Livia Medilanski.

„Artistische Kinderverbiegung“, nannte ein Hamburger Sportwissenschaftler kurz vor der WM den Sport der mageren Mädchen. Letztes Jahr sorgten die Enthüllungen einer spanischen Gymnastin bezüglich Magersucht und Gewichtsterror für Aufsehen. „Dünne Mädchen gibt es überall“, hält Bundestrainerin Regina Brzank dagegen, die Zeiten, als jede Kritik nur zornige Reaktionen hervorrief, scheinen jedoch vorbei zu sein. Aufgeschreckt durch das Negativimage, erforscht das Bundesinstitut für Sportwissenschaft in Köln unter Leitung von Dr. Martin-Peter Büch seit geraumer Zeit mit modernster Computertechnik, welche Schäden Turnen und Gymnastik bei Kindern und Jugendlichen hervorrufen können.

Die Ergebnisse wurden bei einem Symposium am Rande der WM in Berlin vorgestellt. Die Sportarten seien nicht schädlich, so Büch, „wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“ Dazu gehören vor allem medizinische Betreuung, ausreichende Ernährung, ein intaktes soziales Umfeld und individuelle Trainingsgestaltung, beispielsweise die Vermeidung bestimmter Belastungen in Wachstumsphasen.

Bruno Grandi, Präsident des Internationalen Turnerbundes (FIG), sagte in Berlin zu, daß sein Verband die Ergebnisse berücksichtigen werde. Zentrale Punkte sind veränderte Anforderungen und Wertungsrichtlinien, eine Modifizierung der Geräte, insbesondere der Matten, und eine Verbesserung der Trainerausbildung. Damit ließ Grandi auf der einen Seite eine Flexibilität erkennen, wie sie nicht jeder Sportverband aufweist, andererseits gab er damit indirekt zu, welche Versäumnisse in der Vergangenheit begangen wurden und in den meisten Trainingszentren weiterhin begangen werden, bis die Maßnahmen durchgesetzt sind und zu greifen beginnen.

Livia Medilanski hat längst erkannt, wie wichtig es ist, daß den Athletinnen ihr Sport Spaß macht. „Rhythmische Sportgymnastik ist Freude“, sagt sie, „man kann nur gut arbeiten, wenn man auch lachen kann.“ Das etwas verhaltene Schmunzeln der danebensitzenden Brzeska und Schaufler legt den Verdacht nah, daß bei den Trainingseinheiten nicht unbedingt allen Beteiligten gleichermaßen zum Lachen zumute ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen