: Abzocken. Kapitalistische Grundtugend
■ betr.: „Verantwortlich: Wir alle?“, „Sie raubten Mircos Lebensmut“, „Wir müssen zu weiblichen Leit bildern kommen“, taz vom 23.10. 97
So ehrlich Vera Gaserows Frage „Verantwortlich: Wir alle?“ und ihr Hinweis auf die Kultur des perfektionierten Wegschauens gemeint sein mögen, auch hier, in diesem pauschalierenden Mea-culpa- Gestus schleicht sich bereits wieder das Wegschauen ein.
Einerseits will Frau Gaserow durchaus sehen, daß es in einer wenig sozialen und zivilen Gesellschaft auch wenig zu resozialisieren gibt: „Die Justiz kann die Täter wegsperren, sie vielleicht sogar resozialisieren. Nur, in welche Gesellschaft?“ Andererseits werden tiefer liegende Gründe und strukturelle Zusammenhänge tunlichst nicht gesehen. Deshalb hier in aller Pointiertheit: Strukturell betrachtet haben die Gang-Mitglieder genau das gemacht, was auf anderer Ebene sehr angesehen ist: abzocken. Dieses nämlich, das heißt sich um seinen Profit und um sonst nichts kümmern, ist die kapitalistische Grundtugend schlechthin.
Ein Amor S. und ein Konzernboßsind sich in ihrer Mentalität nicht unähnlich, nur tritt eben der eine von beiden in Nadelstreifen und gedeckt durch geltendes Recht auf. Entweder ihr seid mit niedrigeren Löhnen zufrieden, und wir lockern den Kündigungsschutz und verlängern/flexibilisieren die Arbeitszeit – oder wir bauen eure Arbeitsplätze ab, sagen zum Beispiel die Herren Hundt und Henkel zu den Arbeitnehmern. In der Diktion von Amor und Sadok S.: Oder euch geht's dreckig. Erpressung ist Erpressung, Abzocken bleibt Abzocken, ob nun die Gewalt als direkte und persönliche oder als strukturelle, durch wirtschaftliche und eigentumsrechtliche Verhältnisse vermittelt ins Spiel kommt.
Was tun Kohl, Waigel und Westerwelle etc. (demnächst vielleicht Schröder im Verein mit J. Fischer) anderes, als den Schwächeren ihre Sozialhilfe (oder Arbeitslosenunterstützung) zu kürzen, also: wegzunehmen? So wie die „Stubbenhof-Gang“ das auf ihrer Ebene tat. Daß es im einen Fall legal, im anderen Fall illegal ist, sagt nichts über die moralische Qualität, die in beiden Fällen die gleiche ist.
Was unter asozialen Jugendlichen „Klamotten abziehen“ heißt, nennt man auf dem Börsenparkett Gewinnmitnahmen. Man nimmt es eben mit, wenn es sich ergibt, der eine legal, der andere illegal. Und wie wenig sich Recht und Gesetz um Ethik kümmern, sollte die sogenannte Globalisierung doch inzwischen deutlich gemacht haben. Daß eine Person einer anderen unter Gewaltanwendung oder -androhung einfach etwas wegnimmt, kann nicht erlaubt werden. Das wäre Faustrecht. Daß eine Klasse von der Arbeitskraft der anderen lebt und ihr Lebensentfaltungsmöglichkeiten wegnimmt und vorenthält, ebenfalls unter Gewaltandrohung und ggf. -anwendung, das ist das Recht der kapitalistischen Gesellschaft, die Metamorphose des Faustrechts. Und es käme darauf an, hier nicht wegzuschauen, nur weil es unmodern geworden ist, klar auszusprechen, was der Fall ist.
Oder ist es wirklich so schwer zu begreifen, daß gerade das zentrale Element unserer Gesellschaft, um das sich inzwischen alles dreht, das Kapital nämlich, nicht in der Lage ist, Gemeinsinn zu entwickeln, da es nur sich als den einzigen Wert kennt, der wiederum nur eines kann: sich selbst verwerten und mehr werden? Es nennt sich beschönigend Standort, um die Menschen, die in dem Standort leben, zu erpressen. Es ist genau die materielle Verwirklichung des puren und prinzipiellen Egoismus, der im Handeln der kleinen Leute nicht auftreten soll und ihnen trotzdem täglich als das Heiligste der westlichen Zivilisation dargestellt wird, als Inbegriff von Freiheit und Instanz, der sich alles unterzuordnen hat. Weil aber Kapital und Gemeinsinn inkompatibel sind, deshalb hat die kapitalistische Gesellschaft in ihrem Kern ein moralisches Vakuum, das zur Erosion von Anstand, Menschlichkeit und Gemeinsinn führt, und zwar unaufhaltsam.
Wenn heute ein Schüler im Sozialkundeunterricht zur Behauptung des Artikel 14 GG „Eigentum verpflichtet“ rückfragen würde: „Wozu denn?“, er könnte keine andere Antwort bekommen als: „Zu gar nichts.“ Jeder Eigentümer macht mit seinem Eigentum nur eines: noch mehr Eigentum. Das ist die Realität, die auch von den Jugendlichen auf ihrer Ebene und mit ihren Mitteln widergespiegelt wird. Eine Kultur, deren oberster Wert der Shareholder-Value ist, im Vergleich zu dem alle anderen Werte sekundär sind – und Menschen sind im Vergleich zu Dividende und Rendite zweitrangig, machen wir uns nichts vor, schauen wir nicht schon wieder weg! – eine solche Kultur darf sich nicht wundern, wenn die Kids nichts mehr kapieren und nichts mehr spüren vom Leiden der Schwächeren. Wieviel Umsatz wird gemacht über Werbung, die den Kindern einbleut, daß sie nur etwas wert sind, wenn sie dieses und jenes und jenes auch noch haben? Je stärker das Kohlemachen und Erfolgreichsein bejubelt werden (und Erfolg ist heute nur noch an seinem Korrelat, dem Geld, erkennbar), um so weniger kann man die Jugendlichen zu Anstand und Menschlichkeit sozialisieren. Da Menschlichkeit und Anstand dem Kapital fehlen (wenn auch nicht unbedingt dem einzelnen Kapitalisten im persönlichen Umgang mit anderen Menschen), deshalb gehen sie in einer kapitalistischen Kultur um so schneller den Bach hinunter, je stärker diese Kultur nur noch um ihr heiliges Kalb rotiert.
Da bleibt dann gegebenenfalls tatsächlich nicht mehr viel anderes übrig als wegknasten, also Repression. Die Frage ist dann nur, wie sehr diese zunehmen darf, ohne für das System insgesamt kontraproduktiv zu werden. Jedenfalls zeigt die im Zuge der sogenannten Globalisierung notwendigerweise zunehmende staatliche Repression jetzt schon, wie wenig zivil und sozial diese zivile Bürgergesellschaft in Wahrheit ist. Zudem gilt: Je mehr Law and order, um so mehr Mißbrauch staatlicher Gewalt durch ihre unmittelbaren Exekutoren, also Übergriffe, Mißhandlungen, Folter durch Polizei und Militär (und nicht nur auf Videos).
Was Gang-Jugendliche mit ihren Opfern machen, ist die Widerspiegelung der Klassengesellschaft im kleinen. Sie machen das Ausmaß der in den Strukturen versteckten, latenten Gewalt offen sichtbar. Die Zeitschrift Men's Health wirbt mit einem Bild, auf dem ein Kind in einem Karren sich von einem anderen Kind schieben läßt und dem Satz daneben: „Die wirklich erfolgreichen Chefs waren schon immer Chefs.“ Warum also soll es die wirklich erfolgreichen Chefs nur in Unternehmen und Banken und auf der Ebene des Managements geben, nicht in allen Altersgruppen, warum nicht auch in den „Problemstadtteilen“ der Großstädte?
Eine Klassengesellschaft nicht als solche erkennen wollen, nicht wahrhaben wollen, daß der Abbau des Sozialstaates (wie oft man ihn auch als „Umbau“ etikettiert) ein Auf- und Ausbau von Gewalt ist, das ist die Kultur des Wegschauens, die sich so gerne Zivilgesellschaft nennt und immer kurz erschrickt, wenn ihre wahre Natur sichtbar wird. Bernhard Schindlbeck,
München
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