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■ Lesung über die RevolutionInge Viett im Keller

Die Lesung findet im Keller statt. Bierbänke sind um ein leeres Podium aufgebaut, darauf stehen Tisch und Lampe. Nach und nach füllt sich der Raum im Untergeschoß des Schlachthofes mit Menschen: sehr junge Frauen mit kurzen Haaren und gepiercten Nasen, ältere Herren in Anorak und Hut, Punks mit vefilzten bunten Stacheln. Es ist kalt und konspirativ.

Als sich der Raum durch gut achtzig Menschen fast erwärmt hat, taucht sie auf: klein, zierlich mit Igel-Haarschnitt. Inge Viett, ehemalige Terroristin der „Bewegung 2. Juni“, die dieses Jahr ihre Biographie „Nie war ich furchtloser“schrieb. „Es ist schön, Sie mal nicht auf einem Fahndungsplakat zu sehen“, sagt später ein Fan.

Eine Stunde liest sie aus ihrem Leben, spricht von Revolution, Terrorismus und der Zeit der verlöschenden Illusion. Am Anfang fällt noch hier und da ein Schlüssel auf den Boden, hustet jemand laut oder sucht einen besseren Sitzplatz. Dann packt die Erzählung. Inge Viett fährt auf einer Verfolgungsjagd in den Gegenverkehr der Boulevards von Paris. „Klasse“, sagt ein Hörer in den Moment atemloser Stille. Revolution ist aufregend.

Wäre da nur nicht die „amorphe Masse“, wie Inge Viett später die Bevölkerung in der Diskussion nennt. „Was mache ich mit der Kassiererin bei Aldi, die nur für ein Auto malocht?“, fragt sich ein junger Mann mit Nickelbrille. „Falsches Bewußtsein“murmeln die anwesenden DKP-Genossen und wissen doch nicht weiter. Inge Viett auch nicht. Ihr Kampf ist gescheitert – irgendwie, das findet sie auch.

Dabei sei der Gegner nicht schwächer geworden, so der Tenor der Diskussion. Die Macht, der Staat, das System – immer in der anonymen dritten Person. „Wir haben den Staat nicht progressiv verändert. Im Gegenteil. Er ist in seinen Strukturen fester denn je“, faßt Viett enttäuscht zusammen. Und so rückt man enger auf den Bierbänken zusammen, läßt die Spendendose kreisen und raucht vereinzelt einen Joint. Willkommen im Keller der Geschichte. susa

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