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Ohne Anfang und Ende

■ Jerome Charyn erzählt in "Tödliche Romanze" kalendarisch vom Verstreichen der Zeit, von seltsamen Mädchen, von reichen und von fiesen Männern und von einer traurigen Liebe

Auf der linken Buchseite der Text, rechts der Wochenkalender. So blättert und liest man sich durchs Jahr. Jerome Charyns „Tödliche Romanze“ ist eine Kriminal- und Liebesgeschichte in 53 Szenen – oder in 53 Wochen. Der Claassen Verlag hat sie von Loustal illustrieren lassen und daraus ein schönes Buch mit dreijährigem Kalendarium gemacht – wohl um dem Werk eine etwas längere Verkaufszeit zu ermöglichen.

Die Geschichte könnte man zwar ohne weiteres drei Mal lesen und von 1998 bis 2000 in Gebrauch halten. Es gibt genügend Details und liebevolle Momentaufnahmen darin zu entdecken. Als Kalender ist das Werk allerdings nicht unbedingt geeignet: zu groß, zu unhandlich und viel zu schön, um schnöde Termine hineinzuschreiben. Doch die so deutlich sichtbare und zählbare Zeit gibt dem Text eine zusätzliche Tiefendimension und verändert das Lesen: Man spürt das Verstreichen der Zeit. Und um Zeit und Vergänglichkeit geht es auch in der erzählten Geschichte.

Im Prolog wird der Held, der schwerreiche Fernsehautor und Produzent Jocko Robinson, auf einem Parkplatz niedergeschossen. Eigentlich müßte er nach dem Kopfschuß tot sein, doch er erwacht nach halbjährigem Koma im Krankenhaus. So beginnt die Geschichte aus der Bewußtlosigkeit heraus – und mit einem großen Hunger: „Bringen Sie mir einen Bagel“, verlangt Jocko von der Krankenschwester. Sein Reichtum ist in der Zwischenzeit weiter gewachsen, aber die Dinge entgleiten ihm. Seine Fernsehserie „Superhirn“, die weltweit läuft und ohne Ende Tantiemen einspielt, interessiert ihn nicht mehr, und um die Aktien- und Bondpapiere soll sich doch bitte schön Elliot Weinrib, der Banker mit den Henkelohren, kümmern.

Jocko bricht auf nach New York, um dort seinen alten Vater zu besuchen, der nur ein kleiner Millionär ist und ziemlich vertrottelt. Er fährt den ganzen Tag mit dem Aufzug rauf und runter („Was soll ich denn sonst tun?“) und sitzt bei Regen draußen auf der Terasse im Liegestuhl. Es ist Winter, New York schneit zu, und Jocko rettet eine Frau aus einer Schneewehe: Katinka, die sich „Phlegma“ nennt. Sie ist jung und schön und geheimnisvoll und gehört zu einer seltsamen Gruppe von Modells, die alle ein Papageientatoo auf dem Oberarm tragen.

Jocko ist ihr sofort verfallen und reist auf Katinkas Spuren nach Köln und in einen Badeort ans Mittelmeer. Katinkas Geheimnis scheint irgendwie verknüpft mit dem ungelösten Mordanschlag auf dem Parkplatz. Mit Hilfe von John Robevitch, einem abgehalfterten New Yorker Cop und Freund seines Vaters, enträtselt Jocko schließlich die Zusammenhänge, aber nicht – und das ist typisch für Charyn – ohne dabei selbst ins Zentrum des Verbrechens zu geraten und mit großer Lust die Rolle eines Mafiabosses zu übernehmen.

Charyn, 1937 in der Bronx geboren und heute in Paris lebend, wurde berühmt mit seinen Krimis um den Helden Isaac Sidel, einen New Yorker Polizisten, sentimental und häufig weinend, der im Kampf gegen das Verbrechen immer wieder selbst tötet. Und je mehr er tötet, um so schneller macht er Karriere, wird erst Polizeichef, dann Bürgermeister von New York und schließlich amerikanischer Vizepräsident. Verbrechen ist bei Charyn kein abgekoppelter finsterer Teil der Wirklichkeit, nichts, was der Normalität entgegenstünde und erfolgreich beseitigt werden könnte. Die Polizei und das Verbrechen, das „Gute“ und das „Böse“, sind nur zwei konkurrierende Unternehmen, die mit ähnlichen Methoden arbeiten. Das Verbrechen ist überall, und es ist die Bedingung des Erfolgs.

„Die tödliche Romanze“ ist eine leichthändige Variation auf dieses Charyn-Thema. Sie ist darüber hinaus ein Blues – eine melancholische Liebesgeschichte, in der es keine Erlösung, keine Befreiung, kein Happy-End geben kann. Im letzten, 53. Kapitel – auch innerhalb der Geschichte ist damit ein Jahr vergangen, Sylvester wieder einmal überstanden – sieht man Jacko zwar mit Katinka tanzen. Aber Katinka hat ein blaugeschlagenes Auge und weint und sagt: „Mach mir keinen Antrag. Bitte.“

Das Ende bleibt offen, weil jedes Ende offen ist und die Zeit weitergeht, auch wenn das Kalendarium davon nichts mehr zu berichten weiß. Die besten Kriminalfilme und Kriminalromane, schreibt Charyn in einem Essay in dem nützlichen, reichhaltigen Sammelband und Nachschlagewerk „Alles über Krimis“, „scheuchen unsere Erwartungen auf und machen uns bewußt, daß es Enden nicht geben kann, sondern der Film (oder der Roman) in unseren Köpfen weitergeht wie ein herzloser Traum, wie ein Spiegel nicht nur unseres eigenen Todes, sondern des Todes aller Dinge“. Jörg Magenau

Jerome Charyn: „Tödliche Romanze“. Mit Bildern von Loustal und einem dreijährigen Kalendarium. Aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld. Claassen Verlag, Hildesheim 1997, 144 Seiten mit zahlreichen farbigen Bildtafeln, 36 DM

„Das Mordsbuch. Alles über Krimis“. Herausgegeben von Nina Schindler. Claassen Verlag, Hildesheim 1997, 546 Seiten, 58 DM

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