: Von Martins und Gänsen Von Susanne Fischer
Am Tag des heiligen Martin werden die Gänse gekillt und gebraten. Seit Wochen schnattern sie auf Hartmanns Weide von nichts anderem: „Ob sie es dieses Jahr wieder tun? Ob sie es dieses Jahr wieder tun?“ Seit gestern ist es erheblich stiller geworden. Einige werden noch bis Weihnachten aufgehoben und seufzen schon ihr „Alle Jahre wieder.“ Der Rest macht Schmurgelgeräusche in den Bratröhren meiner Nachbarn. In meiner natürlich nicht, denn ich esse niemanden, mit dem ich mich kurz zuvor noch unterhalten habe („Ätsch! Sie werden es wieder tun!“).
Am Tag des heiligen Martin werden wir Gänse gerupft. Kleine Kinder kommen an unsere Tür und stimmen einen Brüllgesang an, aus dem hervorgeht, daß sie sich „Äpfel und Birnen“ einbilden, und zwar ein bißchen plötzlich, denn schließlich müßten sie noch weitergehen nach Bremen. Dort gäbe man ihnen immer gern. Wenn sie gefragt werden, warum sie sich dann um Gottes Willen nicht gleich nach Bremen verzwirnen würden, zucken sie ahnungslos mit den Schultern. Hinterhältige Erziehungsberechtigte haben ihnen ihr Verslein auf Plattdeutsch eingepaukt, damit sie es nicht einmal selbst verstehen. Hält man ihnen schließlich Äpfel und Birnen hin, schieben sie beleidigt die Unterlippe vor und drohen mit Tränen und Geschrei. Schokolade darf es schon sein. Was das mit dem heiligen Martin zu tun hat? Keine Ahnung, auf jeden Fall ist es besser, das Licht zu löschen und sich still zu verhalten. Das hätte der heilige Martin auch nicht anders gemacht.
„Mach auf“, brüllt die Nachbarstochter und schlägt mit den Fäusten an die Tür. „Jacqueline- Pascale, ich habe nichts!“ brülle ich zurück. „Wohl!“ schreit sie, und: „heiß nicht Jacqueline!“ Nein, sie heißt Anna-Lena, weil ihre arme Mutter Nicole getauft wurde. „Die Schokolade ist weg!“ kreische ich. „Gib mir Geld!“ brüllt sie. Als ich durch den Vorhang spähe, sehe ich ihren wohlgefüllten Bollerwagen mit ihrer bisherigen Beute neben ihr. Ihre Freundin Scheherazade mit der dicken Brille und dem entzückenden Lispeln steht auch dabei. Deren Mutter heißt Anna. Scheherazade sagt beinahe nie irgendwas, und ich zweifle, wieviel von der Sore ihr die dicke Anna- Lena zukommen lassen wird. Allerdings muß sie ja auch die ganze Arbeit machen. Wenn sie groß ist, wird sie bestimmt Unterschriftensammlerin für eine Bürgerinitiative gegen das Gänsekillen. Keine Frage, daß die beiden mein Kleingeld kriegen.
Ältere Kinder singen manchmal ein Lied über den heiligen Martin und wie er seinen Mantel einmal mit einem Bettler teilte. Daraus ergibt sich für mich augenscheinlich die unmittelbare Verpflichtung, meine Süßigkeiten mit den Dorfkindern zu teilen, ja, sie ihnen sogar ganz und gar zu überlassen. Meinen halben Mantel wollte jedenfalls keins von ihnen haben.
Mittelgroße Kinder erfreuen mit einem Schlachtruf, sie sängen „vor allen Tü- / ren weit und breit: / behüt euch Gott / in Ewigkeit!“ Daran ist nur wenig wahr, zum Beispiel das mit allen Türen. Sonst stimmt eigentlich nichts, aber die charmante Betonung auf dem „ren“ entschädigt für vieles, sogar dafür, daß die Gottbehütung unter Garantie nur bis zum Martinstag 1998 ausreicht. Dann bin ich bestimmt wieder vogelfrei zum Rupfen für jedermann.
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