: Geklärt sind nur Fehleinstufungen
■ Pflegeversicherung: Akkordarbeit bei den Ambulanten Diensten Von Silke Mertins
Herta Momberg (*) kann nicht gehen, nicht stehen, nicht sprechen. Nach einem Schlaganfall ist die ohnehin an der Parkinsonschen Krankheit leidende 87jährige vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Bisher wurde sie täglich sechseinhalb Stunden vom Ambulanten Dienst zu Hause versorgt. „Der Gutachter vom Medizinischen Dienst, der die Patientin für die Pflegeversicherung einstufen sollte, sicherte mündlich zu, daß sie in Pfegestufe drei eingestuft wird“, so Herta Mombergs Altenpflegerin Ina Graveley. Als Herta Momberg den Bescheid erhielt, wurde ihr jedoch nur Pflegestufe zwei – zwischen drei und fünf Stunden – zugebilligt.
„Da hetzt man rein, kann sich auf die Frau überhaupt nicht mehr einlassen“, schimpft Ina Graveley. „Wenn eine so schwerstpflegebedürftige Frau in Ruhe essen und trinken soll, dauert das mindestens eine Stunde.“
Wer nach der Reduzierung der Pflegestunden den Haushalt machen und einkaufen soll, ist zur Zeit völlig ungeklärt. „Vorher konnten wir ihr soviel Zusprache geben, daß sie um Weihnachten sogar etwas anfing zu sprechen“, berichtet Pflegerin Graveley. Das ist jetzt vorbei. Sie aus dem Bett zu holen, sich mit ihr zu beschäftigen oder gar kleine Spaziergänge im Rollstuhl zu machen ist mit der Vorgabe von höchstens fünf Stunden nicht mehr zu machen: „Wenn nichts passiert, dann muß sie ins Heim – und das wird dann richtig teuer.“
Herta Momberg ist kein Einzelfall. Bei den Pflege-Anträgen, die schon bearbeitet sind, kommt es nach Angaben des Ambulanten Dienstes des öfteren zu „Fehleinstufungen“. Von den 200 Anträgen, die den Ambulanten Dienst – Hamburgs größte Pflegeeinrichtung – betreffen, sind erst 37 entschieden. „Davon sind 10 Fälle von Schwerstpflegebedürftigen in Stufe 2, und das ist absolut unakzeptabel“, sagt der Geschäftsführer des Ambulanten Dienstes, Helmut Birkholz. Gegen diese Bescheide wurde, wie auch im Falle Herta Mombergs, Widerspruch eingelegt. Doch was soll in der Zwischenzeit passieren? „Wir müssen uns fragen, ob wir eine derart reduzierte Pflege überhaupt verantworten können“, sagt Birkholz.
Das Sozialamt will eine Übergangsfinanzierung für die Widerspruchsfälle nicht übernehmen. Laut Christina Baumeister, Sprecherin der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales (BAGS), wurden die Sozialämter angewiesen, „nur im Rahmen der zugelassenen Pflegestufe“ ergänzende Pflege zu finanzieren. Die Behörde will damit verhindern, daß das Sozialamt Gelder vorstreckt, die sie später von der Pflegeversicherung nicht zurückbekommt. „Das Überzahlungsrisiko tragen wir“, bedauert BAGS-Sprecherin Baumeister.
Noch schwieriger wird es bei den neuen Pflegefällen. Beispiel Peter Seibold (*): Im Krankenhaus wurden dem St. Paulianer beide Beine amputiert. Nach seiner Entlassung sollten die Ambulanten Dienste seine Pflege übernehmen. Doch während früher der Sozialdienst des Krankenhauses die Kostenfrage klärte, fühlt sich inzwischen keiner mehr zuständig. „Es waren überhaupt keine Vorbereitungen getroffen worden“, so Helmut Birkholz, „es gab kein Pflegebett, keinen Lifter und auch kein Insulin für den an Diabetes erkrankten Patienten.“
Das Sozialamt, das die noch nicht bearbeiteten Pflegefälle weiterhin finanziert, darf auf Anweisung der Sozialbehörde neue Pflegebedürftige nicht übernehmen. Es kann höchstens erwirkt werden, daß die Pflegekasse Fälle, die nicht über die Familie übergangsweise gelöst werden können, vorrangig bearbeitet. „Nur in Ausnahmefällen“, so BAGS-Sprecherin Christina Baumeister, „darf das Sozialamt die Übergangsfinanzierung übernehmen.“ Und das liegt im Einzelfall im Ermessen der SachbearbeiterInnen.
Derweil wissen die Pflegedienste nicht, wie sie sich Kostenträger für ihre PatientInnen besorgen sollen. „Es kann doch nicht unsere Aufgabe sein, jemanden zu einer Entscheidung zu drängen“, findet Helmut Birkholz. Derzeit müsse man bei den Sozialämtern ziemlich „auf den Tisch hauen“, um die Pflege finanziert zu bekommen.
* Namen v. d. Red. geändert
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