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Eine Busfahrt ins Blaue

■ Schauspielhaus inszeniert „Glücklich ist, wer vergißt...“ auf dem Schießstand Höltigbaum

Die Nacht ist kalt und klar. Es ist schön hier draußen vor den Toren der Stadt. Vielleicht etwas zu kalt, aber das machen die Sterne, die über dem verlassenen Ort funkeln, wieder wett. Gerade haben wir den Platz passiert, an dem vor 50 Jahren Wehrmachtdeserteure erschossen wurden. Innehalten, in sich horchen, weitergehen, kein Grausen und kein Grauen. Die Nacht ist schön. Es ist kalt.

Annäherungen an einen Ort. Am Freitagabend, pünktlich um 20 Uhr, setzt sich der Bus vom Hauptbahnhof aus in Bewegung. Das Schauspielhaus hat zu einer ungewöhnlichen Premiere der Performance Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist eingeladen. Eine Inszenierung mit Texten unter anderem von Samuel Beckett, Rainald Goetz, Marquis de Sade, Ernst Jünger und Carl Schmitt. Das Ziel der Fahrt: der Schießstand Höltigbaum. Dort, zwischen Wällen und Befestigungen, soll Spurensuche betrieben werden. Denn Höltigbaum, bis zum Februar dieses Jahres Übungsanlage der Bundeswehr und nun aus Kostengründen aufgegeben, ist nicht nur ein Platz des symbolischen Todes.

Im Herbst 1944 spürten viele, daß der Krieg verloren war, die Klügeren zogen daraus die Konsequenzen, die Böseren bestraften sie dafür. Wehrkraftzersetzung, schuldig im Sinne der Anklage, Tod durch Erschießen – bis zu zehn Mal pro Tag wurde in der benachbarten Graf-Goltz-Kaserne dieses Urteil gefällt und auf dem Schießstand Höltigbaum vollstreckt.

Plötzlich, ganz plötzlich pflanzt sich die Angst durch die Menge. Das Gefühl, in die Falle gelockt worden zu sein. Die 80 Besucher, die als Premierenpublikum das Gelände bevölkern, tragen durchsichtige Pellerinen, die am Eingang verteilt wurden. Es uniformiert sie, wie Soldaten oder wie Lagerhäftlinge. Vor einem Augenblick noch haben sie Kaffee getrunken, als die Falltüren in rascher Folge über ihnen zuschlagen. Eine unangenehme Empfindung, etwa zweieinhalb Meter unter der Erde, in einer Art Bunkergang, dichtgedrängt. Jetzt bloß keine klaustrophobische Anwandlung. Doch schon öffnet sich die Tür, die Menschen strömen nach draußen, war gar nicht so schlimm. Der Blick fällt auf ein Graffiti. Unter einem Hebel steht: „Direktleitung nach Bagdad.“

Paul Wolff-Plottegg sitzt in einem schweren Ledersessel. Ein Kassettenrekorder quäkt. Um ihn herum stehen weiße Holzkreuze, Kriegsgräber mit der Inschrift: „Wer auf dem Ehrenfeld der Pflicht gefallen ist wie Du geht nicht von uns. Tot sind nur die, die Deutschland nicht gedient.“ Überfrachtete Symbolik, die verstellt und nicht offenlegt.

Im Kopf bleiben Bilder, ein blauer Kinderwagen, der sich auf dem Schießstand gegen den dunklen Himmel abzeichnet und schließlich herunterstürzt: verlorene Kindheit einer ganzen Generation. Eine Limousine, die aus der Dunkelheit auftaucht. Der Schauspieler Josef Ostendorf entsteigt ihr und stimmt jenes Lied aus der Operette Die Fledermaus an, das dieser Inszenierung auch den Namen gab: „Glücklich ist, wer vergißt...“. Schöne Bilder, die dennoch kein Gefühl von der unbarmherzigen Kälte vermitteln, vom Leben und vor allem vom Sterben auf dem Schießstand Höltigbaum.

Karsten Neumann

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