: 1. Mai-Kundgebung: Kampf um Stalin-Konterfei
■ 10.000 Menschen demonstrieren / DGB: Mehr Lehrstellen, kein Sozialdumping
Über 10.000 Menschen haben gestern an der 1.-Mai-Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in Hamburg teilgenommen. Der Zug, der sich bei strahlendem Sonnenschein von der Mundsburg in den Stadtpark schlängelte, war stark von nichtdeutschen Gruppen geprägt. Während im „Internationalen Block“ vor allem die Situation in Kurdistan im Mittelpunkt stand, beherrschten Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Lehrstellenmangel den gewerkschaftlichen Teil des Demozuges.
Zu Beginn der Kundgebung auf der Freilichtbühne im Stadtpark war es zwischen linken Türken und DGB-Ordnern zu heftigen Rangeleien gekommen. Grund: DGB-Chef Erhard Pumm hatte Mitglieder der Türkischen Kommunistischen Arbeiterpartei (TDKP) attackiert, weil sie neben Marx-, Engels- und Lenin-Postern auch ein Stalin-Konterfei trugen. Pumm: „Stalin war ein Diktator. Ich fordere die Gruppe auf, den Platz zu verlassen. Ein Hitlerbild würden wir hier auch nicht dulden.“
Daraufhin versuchten mehrere TürkInnen die Bühne zu stürmen. Es kam zu kleineren Schlägereien mit DGB-Ordnern, die die aufgebrachte Menge abdrängten. „Ich kritisiere auch Stalin. Durch diese Äußerungen fühlen wir uns als Ausländer aber alle angegriffen“, so ein empörter Türke zur taz.
In seiner 1.-Mai-Ansprache forderte der DGB-Chef eine gerechtere Verteilung der Arbeit „für Männer und Frauen, für jung und alt“. Die Wirtschaft sei gefordert, endlich genügend Ausbildungsplätze bereitzustellen. Pumm: „Es darf nicht dazu kommen, daß die Jugend um ihre Ausbildung betrogen wird. In Hamburg muß mit einem Defizit von 1000 Ausbildungsplätzen gerechnet werden.“
Pumm kündigte an, daß sich die Gewerkschaften mehr um die Gestaltung der Arbeitsbedingungen kümmern werden. „Müssen denn Menschlichkeit und Solidarität auf der Strecke bleiben? Wir fordern Arbeitsbedingungen, die gesund sind und nicht Kranke bestrafen.“ Zudem setzt sich der Gewerkschafter für eine Umverteilung der Arbeit ein. „Die Rationalisierung schreitet schneller voran, als die Wirtschaft wächst. Immer mehr Frauen wird zugemutet, die Arbeitswelt zu verlassen und wieder als Hausfrau an den Herd zurückzukehren“, beklagte Pumm. „Wo bleibt die Verantwortung der Unternehmen, die nicht investieren, obwohl sie das Geld auf der hohen Kante haben?“ Pumm zum diesjährigen Mai-Slogan: „Arbeit wird geliebt und gehaßt. Aber Arbeit wird immer gebraucht.“
Das „unerträgliche Lohn- und Sozialdumping“ durch Billigarbeitskräfte aus den EU-Staaten möchte Pumm mit einem Gesetz bekämpfen, das nichtdeutschen Beschäftigten in Betrieben und auf Baustellen Tariflöhne garantiert.
Die Rede des DGB-Vorsitzenden wurde immer wieder von Sprechchören aufgebrachter Türken unterbrochen, die „Hau ab, hau ab“ und „Hoch die Internationale Solidarität“ skandierten. Erst als der Chor Hamburger GewerkschafterInnen – wegen des DGB-Verhaltens demonstrativ – ein türkisches Widerstandslied anstimmte, kehrte unter den inzwischen auf 3000 geschrumpften Kundgebungsteilnehmern wieder Ruhe und Harmonie ein. Kai von Appen
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