Die weiße Teenagerin und der tote Halbnigger Von Ralf Sotscheck

Eine Nation ist durchgeknallt. Louise Woodward, eine britische Teenagerin, ist von einem ausländischen Gericht verurteilt worden, weil sie das Baby Matthew Eappen getötet hat. Was wissen Ausländer denn schon von Gerechtigkeit? Diese Frage stellt sich im Mutterland der fairen Justiz jedesmal aufs neue, wenn britische Staatsbürger in der Fremde angeklagt werden. Das war bei den Liverpooler Hooligans so, die in Brüssel unter italienischen Fans ein Blutbad angerichtet hatten und dafür vor ein belgisches Buschgericht kamen, und das ist bei den beiden Krankenschwestern so, die in Saudi-Arabien eine Kollegin ermordet haben und denen die Halbwilden da unten mit der Todesstrafe drohen.

Der Independent, der einst geschworen hatte, die Königliche Familie für alle Zeiten zu ignorieren, widmete Woodward vier Seiten. Unter anderem hatte das Blatt eine Teenagerin ausfindig gemacht, die den Job bei der Eappen- Familie abgelehnt hatte. Warum? „Weil sich das ältere der beiden Kinder beim Vorstellungsgespräch in meine Wade verbissen hatte.“ Logische Schlußfolgerung: Die Eappens haben ein Rad ab.

Selbst in Dublin griff die Louisemanie um sich. Neulich im vollbesetzten Dart, der Küstenschnellbahn, quetschte sich ein Betrunkener ins Abteil und legte gleich los: „Das verdammte Mädchen ist unschuldig“, lallte er, „es war die verdammte Mutter.“ Das ging eine Viertelstunde so, und die Berufsverkehrspassagiere ließen es schweigend über sich ergehen. Dann wankte die Saufnase aus dem Zug, drehte sich an der Tür um und nuschelte wie eine Stewardeß nach Vorführung der Sauerstoffmaske: „Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.“

Nur wenige behielten angesichts des Massenwahns die Nerven. Ed Vulliamy schrieb im Observer: „Es hat sich herausgestellt, daß die arrogante Hysterie von Tony Blairs selbstzufriedenem Britannien nichts weiter ist als Thatchers ekelhafte Xenophobie, garniert mit Wirtschaftsboom und Trend-Restaurants.“ Der Aufschrei einer Nation, die Menschen wie die Birmingham Six, die Guildford Four und viele andere im Knast hat verrotten lassen, ist in der Tat rassistisch. Das Baby war ein Halbnigger, der Vater Inder, die Mutter geldgierig, weil sie arbeiten ging, statt bei Kind und Küche zu bleiben.

Mit der Umwandlung des Urteils von Mord in Totschlag ist man in Woodwards Heimat nicht zufrieden – ein Freispruch muß her. Wie man das macht, hat die britische Justiz in einem wenig beachteten Fall, der zur gleichen Zeit wie das Woodward-Spektakel verhandelt wurde, vorexerziert. Derek Bentley, wie Woodward 19 Jahre alt, war verurteilt worden, weil er bei einem Einbruch in eine Lagerhalle in Süd-London den Polizisten Sidney Miles erschossen haben soll. Das Berufungsgericht sprach ihn vorige Woche frei, weil bei dem Prozeß ein medizinisches Gutachten verheimlicht worden war: Bentleys geistige Reife entsprach der eines Elfjährigen, darüber hinaus hatte die Polizei beim Verhör zahlreiche Vorschriften verletzt.

Der Freispruch nützt Bentley freilich wenig: Er ist zwar nun rehabilitiert, aber vor 44 Jahren für die nicht begangene Tat gehängt worden. Woodward, nicht ganz rehabilitiert, hat man dagegen eine Million Dollar für Buch- und Filmrechte angeboten.