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Zwei Seelen der Sozialdemokratie

Der Franzose Jacques Delors und der Brite Frank Field erläutern in Berlin konträre Reformpläne für Europa  ■ Aus Berlin Dominic Johnson

Ganz zum Schluß kommt bei Jacques Delors Verve auf. Die „große Schlacht“ um die Seele Europas sieht der ehemalige EU- Kommissionspräsident heraufziehen – die Schlacht um den Sozialstaat. „Wenn Deutschland das soziale Modell zugunsten des angelsächsischen Modells fallenläßt“, ruft Delors, „gibt es keine europäische Identität mehr.“

Starke Worte für den französischen Sozialisten, der 1984 bis 1995 als Chef der EU-Kommission den Binnenmarkt und die ersten Schritte zur Währungsunion vollendete und nach dem Ende seiner Amtszeit Präsident Frankreichs hätte werden können, wenn er nicht aufgrund seines fortgeschrittenen Alters auf die ihm angetragene Kandidatur verzichtet hätte.

Es ist wohl weder die Sorge um das Lebenswerk seiner Tochter Martine Aubry, Frankreichs Arbeits- und Sozialministerin, noch die bloße Loyalität zur französischen Position beim morgen beginnenden EU-Beschäftigungsgipfel, die Delors am Montag nachmittag bei seinem Vortrag in der Berliner Humboldt-Universität über die Zukunft Europas so antreibt. „Es geht“, beschwört Delors, „um unsere Unabhängigkeit, unsere Handlungsfähigkeit, unser Überleben“, um Europas „universelle Berufung“, um die Beendigung der „Übermacht des Dollar“ und sogar um die gloire.

Jacques Delors ist ein Vorkämpfer des alten Europa und merkt es nicht. Sein Ideal ist die Vollendung der europäischen Träume der Nachkriegszeit. Er wünscht sich Europas Ausbruch aus dem Reich der Notwendigkeit, als wegen des Kalten Krieges nur Westeuropa seine Einheit suchen konnte, in das Reich der Freiheit, wo der ganze Kontinent versammelt ist. Die Währungsunion, hofft er, wird der „qualitative Sprung“ sein, der die Staaten zusammenschmiedet. Die Verschmelzung der Währungen soll die Verschmelzung der Wirtschaftspolitik und schließlich die der gesamten Politik nach sich ziehen.

Delors' Europa ist ein Kunstwerk von Technokraten, die seiner Meinung nach sowieso alles besser und schneller können als eitle gewählte Politiker. Führten Experten und nicht Politiker die Verhandlungen über die notwendige insitutionelle Veränderung der EU angesichts der geplanten Osterweiterung, „würden drei Monate ausreichen“, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Delors vergleicht die EU mit einem Auto, bei dem ja auch ein Mechaniker unter die Haube gucken muß, um zu wissen, wie es zu reparieren ist.

Aber Delors' geliebte EU ähnelt zur Zeit eher der A-Klasse. Beim Test der Massenarbeitslosigkeit fällt sie um. Die identitätsstiftende soziale Marktwirtschaft produziert im brotlosen Sparkurs Richtung Währungsunion viel mehr Arbeitslose als der von Delors dämonisierte „britische Pragmatismus“. Das nährt Zweifel an der europäischen Einigung, und das merken sogar Delors' Wunschverbündete in der „großen Schlacht“, die deutschen Sozialdemokraten. Hat nicht eben der mögliche SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder die Erweiterung der deutsch-französischen Achse zu einem deutsch- französisch-britischen Dreieck vorgeschlagen?

Der britische Pragmatismus sitzt derweil in der Humboldt-Universität einen Stock höher und diskutiert in Form eines deutsch-britischen Seminars über eben jenes Thema, für das Delors in den Krieg ziehen will: Die Zukunft des Sozialstaates. Hauptredner am Dienstag früh ist Frank Field, Staatssekretär im britischen Sozialministerium und New Labours kontroverser Vordenker für Fragen der Wohlfahrtsreform. „Wir haben die Grenzen der öffentlichen Bereitschaft erreicht, einen unreformierten Sozialstaat zu finanzieren“, meint er. Der Wohlfahrtstaat der Nachkriegszeit, der in Wahrheit der Wohlfahrtsstaat der Jahrhundertwende sei, habe ausgedient. Man müsse die „Wohlfahrtsabhängigkeit“ und den passiven Empfang von Sozialhilfe abschaffen.

„Ja, ich glaube daran, daß Leute arbeiten sollten, wenn sie dazu fähig sind“, sagt Field. Der Sozialstaat müsse „zur Arbeit anhalten, Sparsamkeit vergrößern und Ehrlichkeit fördern“. Das sei der Grundstein des „neuen Gesellschaftsvertrages“, an dem die Labour-Regierung arbeite: Pflichten gegenüber der Gemeinschaft kommen zuerst, Rechte leiten sich aus der Erfüllung von Pflichten ab. Zumindest die britische Öffentlichkeit scheint überzeugt, daß dies der Weg sei, um den von Delors beschworenen „historischen Kampf gegen den Niedergang“ zu gewinnen.

Labour geht es um den Niedergang Großbritanniens. Delors meint den Niedergang Europas. Hier trennen sich die Wege. Delors erläutert seine Wunsch-EU als zweigeteilte EU: Eine „Avantgarde“ mit gemeinsamen Ambitionen und geteilter Souveränität, drumherum eine „breite Konföderation“, also ein erweiterter Binnenmarkt. Wo da Deutsche und Franzosen einerseits und Briten andererseits hingehören, ist klar. Selbstverständlich wissen Delors und Field auch in Berlin nicht voneinander. Sie würden es wohl auch nicht wollen.

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