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Die Doppelkoje in der letzten Reihe Von Ralf Sotscheck

Wir gehen jetzt wieder öfter ins Kino. Neulich zum Beispiel: „Wilde“ von Brian Gilbert. Kein schlechter Film, sondern viel schlimmer: ein langweiliger Film. Wer jemals etwas von Oscar Wilde gehört hatte, wußte genau, was in der nächsten Szene passieren würde. Und wie sich Wilde durch die Betten diverser Männer schleppte, so schleppten wir uns zunächst durch den Film.

Dann wurde es aber doch noch interessant. Das lag daran, daß Aine, John und Anne Karten für die letzte Reihe besorgt hatten. Dort sitzen, seit James Joyce 1904 das erste Filmtheater in Dublin eröffnete, normalerweise junge, unverheiratete Pärchen, die in Ermangelung eigenen Wohnraums ins Kino müssen, um im Dunkeln allein zu sein. Dabei ist es ihnen völlig wurscht, welcher Film gerade läuft. Das wurde immer stillschweigend geduldet, zumal es unbequem und daher ungefährlich war, doch nun hat Virgin (!!) in Dublin ein Kino aufgemacht, in dem das heimliche Schmusen geradezu gefördert wird. Ein Symbol des moralischen Verfalls der Grünen Insel: In der letzten Reihe fehlt jede zweite Armlehne, so daß sich die Teenager in Doppelkojen lümmeln können.

Das taten sie dann auch. Da ich knapp über das Kinoschmusealter hinaus bin und außerdem über eigenen Wohnraum verfüge, teilte ich mir mit John einen Doppelsitzer, während neben uns ein minderjähriges Paar saß und sich durch die Nähe von uns Erwachsenen keineswegs bremsen ließ. Kaum war das Licht aus, da fiel der Knabe über das Mädel her, so daß die gesamte Stuhlreihe ruckelte. Es war, als ob auf der Leinwand ein Wackelbild aus den Kindertagen des Kintopps lief. Dabei raunzten sich die beiden Nettigkeiten ins Ohr, die ich wegen der Super-Dolby-verstärkten Wilde-Stimme aber nicht verstehen konnte.

In seinem „Irischen Tagebuch“ hatte sich Kettenraucher Heinrich Böll 1957 noch gefreut: „Hier – welch eine Wohltat – darf man im Kino rauchen“. Das ist inzwischen verboten, und Böll würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüßte, was heutzutage in irischen Kinos geschieht. Vermutlich sind die Aktivitäten in der letzten Reihe der Hauptgrund dafür, daß die Iren die fleißigsten Kinobesucher Europas sind. Schließlich ist ein Drittel der Bevölkerung unter 25 Jahren alt – und ohne eigene Wohnung.

Unsere Nachbarn waren höchstens 16. Während auf der Leinwand eine heftige schwule Liebesszene lief, spielte sich neben uns die Hetero-Variante ab. Der junge Mann hatte sich längst ausgestreckt, so daß seine Beine quer über meinen Knien lagen. Die Sitze wackelten immer bedenklicher. Endlich mußte das Mädchen auf die Toilette. Eine Gelegenheit, einen Augenblick ruhige Bilder von Wilde und seinem Freund Bosie, dem späteren Faschisten, zu betrachten? Weit gefehlt. Der Knabe nutzte die vorübergehende Abwesenheit seiner Freundin, um das Liebesnest mit Jacken und Pullovern auszubauen. Das hätte mich nicht weiter gestört, hätte er dazu nicht auch meinen Mantel verwendet. Wenigstens freute sich die Freundin über die Umgestaltung des Sitzes, der jetzt wie ein regelrechtes Bett aussah.

Daß der Film zu Ende war, merkten die beiden erst, als ich sie um Herausgabe meines Mantels bat. Nie wieder letzte Reihe. Dann lieber den Rasiersitz ganz vorne.

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