: Patienten auf Wolke 17
Eßstörungen oder Rheuma: Hamburgs einzige Krankenhausabteilung für Naturheilverfahren befindet sich in Ochsenzoll ■ Von Lisa Schönemann
Ilse Goosmann stört das nüchterne Ambiente in Haus 17 kaum. Sie hat andere Sorgen. Mühsam ist sie zu dem Stuhl neben ihrem Bett gelangt. „Ich bin 28“, versichert die Patientin augenzwinkernd und rät, die Zahlen umzudrehen, um ihr tatsächliches Alter zu ermitteln. Vor drei Wochen rutschte die alte Frau in ihrer Wohnung aus und lag hilflos auf dem Teppich, bis die Feuerwehr kam. Jetzt hofft sie, daß sie von der Station für Naturheilverfahren nicht direkt in ein Pflegeheim gebracht wird.
Wer sich Haus 17 wie einen achteckigen Holzbau mit Grasdach vorstellt, in dem es nach Räucherkerzen riecht, wird enttäuscht: Die Abteilung für Naturheilverfahren ist in einem Neubau des ehemaligen AK Ochsenzoll (jetzt Klinikum Nord) untergebracht. Der Krankenhausflur mit der gläsernen Zentrale in der Mitte erinnert an die Kommandobrücke eines Containerschiffs. Naturhölzer und Pastelltöne sind beim anhaltenden Sparzwang im Gesundheitswesen nicht drin.
Gelegentlich liebäugeln Chefarzt Helmut Brinkmann und seine Crew mit der Sanierung eines leerstehenden Altbaus auf dem Gelände, um den Patienten eine schönere Atmosphäre anbieten zu können. „Aber wie?“, fragt der Internist mit den langen Haaren und kehrt imaginäre Kitteltaschen nach außen. Die Umbaukosten in Millionenhöhe übersteigen sein Budget bei weitem.
Die 52 Patienten der beiden Stationen sind im Schnitt wesentlich jünger als die Rentnerin Ilse Goosmann. „Oft sind es Frauen um die dreißig mit psychogenen Eßstörungen, massiver Erschöpfung und Herz-Kreislauf-Beeinträchtigungen“, sagt Chefarzt Brinkmann. Im längeren Gespräch stelle sich zudem heraus, daß die Patientinnen zuviel rauchen und arbeitslos sind. Viele leiden unter Depressionen.
„Manche entscheiden sich von vornherein für Naturheilverfahren“, sagt der Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin, der nie den Fahrstuhl benutzt, wenn er zur Visite in den fünften Stock des Hauses muß. Andere Patienten haben eine lange schulmedizinische Odyssee hinter sich. „Zu uns kommen nicht nur aufgeklärte Akademiker, sondern auch Erwerbslose oder Ausländer“, betont Brinkmann und schmunzelt: Lehrer seien unter den jährlich rund 600 Patienten schon recht zahlreich vertreten. Brinkmann selbst ist seit neun Jahren dabei, übernahm die Abteilung von seinem ehemaligen Chef Fritz Oelze. Der hatte sich vor etlichen Jahren mit seinem Grundsatz, „so naturgemäß wie möglich, so schulmedizinisch-medikamentös wie unbedingt erforderlich“von den internistischen Kollegen als „Kurpfuscher“beschimpfen lassen müssen.
Seither ist die Akzeptanz der Abteilung für Naturheilverfahren unter den Klinikern erheblich gestiegen. Wenn jetzt von „Salatfressern“oder der „Wasserabteilung“die Rede ist, dann höchstens im Spaß. Hausärzte weisen ihre Patienten gezielt ein, gerade wenn es um chronische Schmerzen, Weichteilrheuma oder Erschöpfungssyndrome geht. Häufig führt eine Lebenskrise die Erkrankten ins Klinikum Nord, das zur Zeit aus den Krankenhäusern Heidberg und Ochsenzoll im Norden der Hansestadt zusammenwächst.
Zu dem ganzheitlichen Ansatz gehören neben einer gründlichen schulmedizinischen Diagnostik auch der Blick auf die seelischen Nöte und den sozialen Hintergrund der Patienten. Der stationäre Aufenthalt von etwa vier Wochen sieht je nach Krankheitsbild Ernährungs-, Psycho- und Elektrotherapien, zudem Massagen, Entspannungsübungen und Behandlungen mit pflanzlichen Wirkstoffen vor. „Ein akuter Gichtanfall im Großzehengelenk etwa, Schmerzen, bei denen Sie die Wände hochgehen, wird mit Colchizin behandelt“, sagt Helmut Brinkmann: ein pflanzliches Mittel, das aus der Herbstzeitlosen gewonnen wird.
Die Abteilung für Physikalische Therapie ist gleich nebenan. Bandscheibenleiden und andere Wirbelsäulenschädigungen, Fettsucht, Neurosen, Herzerkrankungen oder Lungenentzündungen bilden nur einen Ausschnitt der Krankheitsbilder, die in der Abteilung für Naturheilverfahren behandelt werden können. Die Küche ist auf die Verpflegung von PatientInnen mit Nahrungsmittelallergien oder allergischen Hauterkrankungen eingerichtet. Nur in einem Punkt ist Haus 17 eine Krankenhausstation wie jede andere: Die Kosten für den Aufenthalt werden von der Kasse übernommen.
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