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Ordnungsgemäß in Spannung

■ Kunsthalle: Zwei Räume für ein Memento Mori und 19 Fallen

Dreiundzwanzig Gesichter mit toten Augen starren den Besucher an. Dabei waren sie vor 64 Jahren noch ganz hoffnungsfroh. „Sie sind zum letzten Mal zusammen. Es ist das Ende des Schuljahres, sie sind Schüler am Gymnasium Chases, dem jüdischen Gymnasium in Wien, wir befinden uns im Jahr 1931. Was ist aus ihnen nach so vielen Jahren geworden, was für ein Leben haben sie gehabt? Einer von ihnen hat sich auf dieser Photographie wiedererkannt, er ist dem Schrecken entkommen und lebt heute in New York; von den anderen weiß ich nichts.“

So lautet der erläuternde Text des französischen Künstlers Christian Boltanski zu diesen 23 Heliogravuren mit den stark vergrößerten Ausschnitten aus dem alten Klassenfoto. Seit neun Jahren arbeitet der 51jährige Pariser speziell an diesem Thema. Das Kupferstichkabinett der Hamburger Kunsthalle hat jetzt den Graphikzyklus erworben und zeigt ihn im „Saal der Meisterzeichnung“. Es ist eine Ergänzung zu der schon früher gekauften, 1991 ausgestellten monumentalen Erinnerungs-Installation „Die Toten Schweizer“.

Das Bedrängende dieser Fotos liegt nicht nur im Thema, sondern auch im Medium selbst. Um einen Moment zu verewigen, tötet Fotografie durch Festhalten und macht so paradoxerweise das melancholische Fortschreiten der Zeit bis zum Tod umso deulicher. Und die gefrorenen Momente werden zu Reliquien, erst im privaten, profanen Rahmen und schließlich im allgemeinen als überpersönliche Zeitzeugnisse. Ein Foto von jungen Juden, die das Jahr 1945 vermutlich nicht überlebt haben, ist also gleich in doppeltem Sinne ein Memento Mori: So ergreifend und übertragbar zugleich soll ein Mahnmal des Erinnerns sein – und bitte nicht 100 mal 100 mal 10 Meter purer Beton, wie in Berlin geplant.

Auf eine ganz andere Probe stellt der im Emsland geborenen Hamburger Andreas Slominski die Geistesgegenwart der Besucher in einem Raum nahebei. Der Künstler hat dort neunzehn Fallen aufgestellt, zehn davon eine Neuerwerbung der Kunsthalle. Der 36jährige ist in seinen sonstigen Arbeiten vielleicht ein metaphorischer Fallensteller, hier ist er es ganz wortwörtlich. Die Bezeichnung „Schwanenhals“ mag poetisch klingen, für den Kenner ist es ein brutales, gezahntes Fangeisen, das Fuchs, Dachs und Waschbär festsetzt. So wie dieses sind alle Objekte hier echte und ordnungsgemäß in Spannung versetzte Fallen. Sie harren gespannt der kommenden Ereignisse – und die werden gewiß nicht im Wildwechsel liegen.

Slominski inszeniert die Vorstellung, aber auch den Zweifel, sind doch die Mechanismen nicht überprüfbar, nicht näher zugänglich und überhaupt ganz am falschen Platz. Doch sind wir nicht alle Jäger nach einer vielleicht doch noch ein bißchen kitzligen Überraschung im schon so übergründlich erschlossenen Alltag?

Slomimskis mehr oder wenig gewöhnliche Fallen haben im Kunstkontext, wie es die manieristische Theorie schon vor 400 Jahren verlangte, die „accutezza racondita“, den „verborgenen Scharfsinn“. Sie spannen statt der Erwartung des Jägers die des Besuchers an: Kunst auf der Lauer auf den Vorbeiwechsel großer Gedanken – ein paar kleine tun es zur Not auch.

Hajo Schiff

Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, Boltanski bis 1. September, Slominski bis auf weiteres.

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