: Die Wiederkehr des neuen Orpheus
Zum 500. Todestag wird Johannes Ockeghem neu entdeckt. Der frankoflämische Komponist schaffte es, Polyphonie einfach klingen zu lassen und Klangmauern zu schichten – ganz im Sinne von Phil Spector. Seit kurzem auch auf Schallplatte erhältlich! ■ Von Christoph Wagner
Alte Musik“ ist eine relativ junge Disziplin. Doch obwohl sich das Interesse an Klängen der Vor-Bach-Zeit erst seit ungefähr 25 Jahren zu einer eigenständigen Strömung bündelt, sind – was Vermarktung und Präsentation anbelangt – bereits ähnliche Strategien erkennbar wie in den anderen Sektoren der klassischen Musik. Zur Umsatzstimulanz biedert man sich gelegentlich ungeniert dem Zeitgeist an.
Zwei Phänomene haben in den vergangenen Jahren das Erscheinungsbild der „Early Music“ geprägt. Zum einen wurde die Musik der mittelalterlichen Äbtissin, Komponistin, Mystikerin und Heilerin Hildegard von Bingen unter den Stichworten Feminismus und Esoterik recht schamlos durch eine Flut von Veröffentlichungen vermarktet – teils mit beträchtlichem Erfolg. Andererseits avancierten die gregorianischen Gesänge verschiedener Mönchsorden als meditativer Seelenbalsam für geplagte Manager zu Hitparadenrennern.
Solche Mechanismen bewirken, daß vieles unter den Tisch fällt, was eine Berücksichtung verdient hätte – ist doch das Reservoir an unveröffentlichter Renaissance- Musik noch lange nicht ausgeschöpft. Als ein Opfer trendgemäßer Veröffentlichungspraxis kann der frankoflämische Komponist Johannes Ockeghem gelten. Bis vor kurzem waren seine Werke nicht auf Schallplatte erhältlich oder nur in längst überholten Versionen, wenn man von der Aufnahme der „Missa Mi-Mi“ des Hilliard Ensembles von 1985 einmal absieht. Ein „Ockeghem-Jahr“ war nötig, um das zu ändern. Der 500. Todestag des Komponisten bot heuer dazu Gelegenheit. Nicht nur die Tallis Scholars, sondern auch die Clerks Group, das Orlando Consort und die amerikanische Capella Alamire nutzten die gesteigerte Medienaufmerksamkeit, um mit Einspielungen an die Öffentlichkeit zu treten.
An Ockeghems Bedeutung als eine der entscheidenden Gestalten der europäischen Musikgeschichte dürfte es nicht gelegen haben, daß man seinen Namen bisher vergeblich in den Katalogen der Schallplattenfirmen suchte. Als er am 6. Februar 1497 starb, waren sich die Zeitgenossen einig, den führenden Komponisten der Epoche zu Grabe zu tragen. Zahlreiche Nachrufe priesen ihn in den höchsten Tönen. Erasmus von Rotterdam huldigte dem „Fürst der Musiker“, während Antoine Busnois ihn in einer Motette zum „neuen Orpheus“ stilisierte. Andere sprachen vom „Vater der Musiker“.
Wie sein Vorgänger Guillaume Dufay, der mit der fünfsätzigen Ordinariumsmesse den Prototyp für die Meßkomposition des 15. Jahrhunderts geschaffen hatte, war Ockeghem besonders an sakraler Musik interessiert. Den Kern seines Werkes bildet eine beachtliche Zahl von Messen, von denen allerdings nur 13 die Jahrhunderte überlebt haben. Über seine Biographie geben die Annalen nur bruchstückhaft Auskunft. Geboren wurde er um 1420 in Ostflandern, tauchte 1443 als Kathedralsänger in Antwerpen auf. Zwei Jahre später stand er bei der Kapelle des Herzogs von Burgund in Diensten, der damals in Moulins residierte. Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wechselte er an den französischen Königshof, wo er 46 Jahre lang insgesamt drei verschiedenen Herrschern diente. Dort war Ockeghem nicht allein als Komponist tätig, sondern wirkte ebenso als Politiker und Gesandter. In diplomatischer Mission reiste er 1470 im Auftrag seiner Majestät des Königs nach Spanien.
Für seine Verdienste wurde er mit dem lukrativen Amt des Schatzmeisters der Abtei St. Martin in Tours bedacht, was sein Ansehen beträchtlich steigerte, ihm aber auch die Verantwortung für die Verwaltung eines der größten Klöster Frankreichs aufbürdete. Wie er das Kunststück vollbrachte, dem Intrigenspiel am Hof zu entgehen und die Machtkämpfe vier Jahrzehnte zu überstehen, darüber hat er in einem Chanson Auskunft gegeben: „Ich wollte keine Feinde haben. Diesem Bestreben habe ich alle Wünsche hintangesetzt, und davon werde ich mich nicht abbringen lassen. Ordnung, Vernunft und Vorsicht will ich wahren. Ich sorge dafür, auf Erden Freunde zu haben und mein Vertrauen in sie zu setzen. Es muß bekannt sein, daß ich keinerlei Zweifel hege, sonst würde ich mein Verderben herbeirufen, denn ich wäre aller Ehren bar.“
Ockeghems kompositorische Handschrift änderte sich über die Jahre. In den frühen Werken, die in den fünfziger und sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts entstanden, sieht man sich einer Art „Klangmauer“ (ganz im Sinne von Phil Spector) gegenüber, das Spätwerk bestimmen Flüssigkeit, Transparenz und Vielfalt. Ockeghem gelingt ein Paradox. Er schafft es, die vertrackte Mehrstimmigkeit der Renaissance-Musik leicht und einfach klingen zu lassen. Der Komplexität auf dem Notenblatt steht eine Mühelosigkeit beim Hören gegenüber. Dieses Talent brachte ihm etliche Bewunderer ein. „Am Eingang der Zitadelle steht die königliche Kapelle, wo die Sänger des Königs jeden Tag die Messe und die Vesper singen“, schreibt 1470 der italienische Humanist Francesco Florio in sein Reisetagebuch. „Alle Musiker, die aus dem ganzen Königreich ausgewählt werden, werden als ausgezeichnet erachtet, es ist jedoch Johannes Ockeghem, der Meister der königlichen Kapelle, der sich durch seine Stimme und Kunst hervorhebt.“
Neben den etablierten Ensembles des Genres, zu denen man neben den Tallis Scholars (unter Leitung von Peter Phillips) auch die 1984 gegründete Capella Alamire (dirigiert von Peter Urquhart) aus den USA rechnen muß, meldeten sich zum „Ockeghem-Jahr“ zwei Sängerformationen der dritten Generation zu Wort, die sich, was die Qualität betrifft, keineswegs hinter den Routiniers verstecken müssen. In den vier Veröffentlichungen der Clerks Group unter ihrem Dirigenten Eduard Wickham kommt die Vielfalt der Meßkomposition des flämischen Komponisten zum Ausdruck, während das Orlando Consort einen eher sachlichen Stil pflegt, der manchmal fast kühl wirkt. Nach Ockeghem harren weitere Werke wichtiger Komponisten der Renaissance einer Entdeckung. So liegen etwa von Jacob Obrecht und Philip de Monte nur wenige Einspielungen vor. Allerdings besteht zur Verzweiflung kein Anlaß. Denn eines ist sicher: Die nächsten Jahrestage kommen gewiß, wenn auch erst etliche Jahre nach der Jahrtausendwende.
Platten:
The Tallis Scholars: „Johannes Ockeghem – Au Travail suis/ De plus en plus“. Gimell Records 454 935-2
Capella Alamire: „Johannes Ockeghem – Missa Sine Nomine/ Missa Cujusvis/ Missa Fors Seulment“. Dorian Discovery DDD DIS-80152
Orlando Consort: „Ockeghem – Missa De Plus En Plus“. Metronome Records
The Clerks Group: „Ockeghem – Missa Fors Seulement“. ASV GAU 168
The Clerks Group: „Ockeghem – Missa Prolationum“. ASV GAU 143
The Clerks Group: „Ockeghem – Missa De Plus En Plus“. ASV GAU 153
The Clerks Group: „Ockeghem – Missa Mi-Mi“. ASV GAU 139
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen