: Carlos genießt seinen letzten Auftritt
Im Prozeß gegen Ilich Ramirez Sánchez alias Carlos beherrscht der Angeklagte voller Lust an der Inszenierung das Geschehen. Er doziert, verbessert, erklärt, verteidigt – und vergrault nacheinander all seine Rechtsanwälte ■ Aus Paris Dorothea Hahn
Der Polizist bringt alles durcheinander. Den Putsch in Chile und die israelischen Bombardements auf Palästinenserlager im „schwarzen September“ datiert er je um ein Jahr zu früh. Die Begriffe „links“, „revolutionär“, „militant“ und „militärisch“ benutzt er, als wären es Synonyme. Die Eheschließung des Angeklagten mit der Deutschen Magdalena Kopp Anfang der 90er Jahre verlagert er auf die späten 70er. Von einer Pariser Geliebten des Angeklagten behauptet er, sie habe inzwischen dessen Bruder in Venezuela geheiratet.
Der kleine Mann in dem schlecht sitzenden Anzug und den quer über die Glatze gekämmten langen Seitenhaaren ist der Sachverständige. Er soll dem Geschworenengericht den abenteuerlichen Lebenslauf des fast gleichaltrigen Ilich Ramirez Sánchez (48) erklären. Ein Mann, mit dem er nie gesprochen hat. Seine Quellen sind Polizeiunterlagen, Sachbücher und ein Interview in der pro-irakischen Zeitung El Watan al Arabi, dessen Authentizität der Angeklagte bestreitet. Als der Polizist auf die Schießerei vom 27. Juni 1975 in der Pariser Rue Toullier zu sprechen kommt, beginnt seine Stimme zu zittern. „Ein gewisser Carlos“ habe dort drei Tote – zwei französische Geheimdienstagenten und ein Libanese – und einen schwerverletzten Kommissar hinterlassen.
„Der Gorilla hat nichts kapiert“, kommentiert wenig später Carlos aus seiner Angeklagtenbox heraus. Er trägt an diesem dritten Verhandlungstag ein schwarzes Sakko mit einem weißen Seidentüchlein in der Brusttasche. Den rechten Fuß stützt er wie ein Cowboy auf eine Bank. In den Händen hält er ein rotes Ringbuch, aus dem er Richter und Geschworene belehrt.
Die von Amts wegen bestellte chilenische Übersetzerin, die sonst nie zu Wort kommt, läßt er das korrekte Putschdatum ins Mikro sagen. Dem Richter schlägt er vor, ein historisches Lexikon anzuschaffen. Dem „Gorilla“ erklärt er ausführlich den Unterschied zwischen „orthodoxen“ Kommunisten und „Guevaristen“, sowie die „Fokustheorie im antiimperialistischen Kampf“. Dann korrigiert er sein Ehedatum und bedauert lachend, daß sein Bruder „leider kein Revolutionär, sondern ein Bourgeois mit Swimmingpool“ geworden sei und zudem die Dame aus Paris nie kennengelernt, geschweige denn geehelicht habe.
Der Vorsitzende Richter Yves Corneloup läßt Carlos machen. Ganz selten zeigt er eine eigene Reaktion. Einmal empört er sich, als Carlos prahlt, seine Organisation habe Attentate gegen „hohe Persönlichkeiten geplant – unter anderem gegen französische Richter“. Ein andermal protestiert er, als der Angeklagte ihn einen „Justizbeamten“ nennt: „Ein Beamter bin ich nie gewesen.“ Ansonsten unterbricht er den oft viertelstundenlangen französischen Wortfluß mit spanischer Melodie nur, um den Angeklagten zu mahnen, „langsamer“ zu reden und sich kürzer zu fassen. „Wir haben in diesem Prozeß beide dieselbe Aufgabe“, sagt Corneloup dann, „wir müssen pädagogisch sein.“
Die Pädagogik des Vorsitzenden Richters besteht in einfachen, oft naiven Fragen. Die von Carlos in ausschweifenden und selbstgefälligen Antworten. „Hören Sie zu. Das werde ich werde Ihnen erklären“, leitet der Angeklagte gewöhnlich ein und macht dazu ein paar weitausladende Gesten mit den Armen über das hölzerne Pult hinaus, das ihn vom Gerichtssaal trennt. Dann erzählt er.
Von seinem Vater, dem venezolanischen Kommunisten und Anwalt, der „nie einen Prozeß verloren“ habe. Von den Befehlshabern der bewaffneten palästinensischen Organisation PFLP, die sich bei der ersten Begegnung mit dem jungen Venezolaner gefragt hätten, ob sie ihn „sodomisieren“ sollten. Von seinen Qualitäten als „weltbekannter und ausgezeichneter Feuerwerker“. Von seinen 100 Pässen und 52 Pseudonymen.
Wenn das Publikum lacht, lehnt sich Carlos genußvoll zurück. Er klopft auf sein kleines Mikro und fragt mit weit geöffneten Armen in den holzgetäfelten Saal hinein: „Hören Sie mich?“ Er sucht immer wieder nach Blickkontakten. Er schürzt die Lippen, wann immer er eine Frau sieht.
Konkrete Auskünfte verweigert er. Über seinen angeblichen Aufenthalt in einem kubanischen Ausbildungslager für Sabotageexperten soll der Richter „die venezolanische KP“ und die „kubanischen Behörden“ befragen. Über die frühe Zusammenarbeit im Alter von 18 Jahren mit dem sowjetischen Geheimdienst, derer Carlos sich in einem seiner wöchentlichen Verhöre mit dem Antiterror-Untersuchungsrichter Jean-Louis Bruguière gebrüstet hat, lacht er nun im Gerichtssaal schallend und höhnt: „Glauben Sie allen Ernstes, daß ein 18jähriger in London, Paris oder Bujumbura weiß, wie er an den Kontaktmann des KGB herankommt?“
Die Schießerei von der Rue Toullier, wegen derer Carlos angeklagt ist, kommt kaum zur Sprache. Der Angeklagte hat seine Verteidigung darauf gestützt, daß sein Prozeß gar nicht stattfinden dürfte. Sein Argument: „Ich bin nicht legal in Frankreich, ich bin aus dem Sudan entführt worden.“ Die Anwältin Isabelle Coutant Peyre, die letzte von über zwei Dutzend Verteidigern, die von Carlos in seinen drei Haftjahren in Frankreich verschlissen wurden, hat das internationale Husarenstück von der Nacht zum 15. August 1995 ausführlich beschrieben. Agenten des französischen Geheimdienstes DST hatten Carlos in Khartoum Drogen gespritzt, ihn gefesselt, in einen Sack gesteckt und ihn ohne Auslieferungsantrag und gültigen internationalen Haftbefehl in einer französischen Militärmaschine nach Paris gebracht.
Nach dem Scheitern ihres Antrags auf Freilassung des Angeklagten ist Coutant Peyre zurückgetreten. Ihr Nachfolger ist ein blonder junger Mann, der in der Anwaltskammer als besonders beredtes Nachwuchstalent gilt. Das Geschworenengericht hat ihn zwangsverpflichtet, weil das Gesetz einen Verteidiger vorschreibt. Nachdem der junge Anwalt eine Nacht lang in den zehn Aktenordnern geblättert und ein 40minütiges Gespräch mit seinem Mandanten geführt hat, teilt er jetzt dem Gericht mit, daß es „zu viele Löcher in den Unterlagen gibt“, und daß er sich nicht in der Lage sieht, die Verteidigung zu übernehmen. „Er ist intelligent“, lobt Carlos und tätschelt dem Anwalt den Rücken.
Der Verteidiger schweigt. Augenzeugen sind nicht geladen. Die Anklageschrift ist seit dem Jahr 1992, als Carlos bereits einmal in Abwesenheit verurteilt worden ist, nicht verändert worden. Aber der Prozeß geht weiter.
Die vier Studenten, die am 27. Juni 1975 in der Wohnung in der Rue Toullier waren, als die Schießerei stattfand, leben heute in Venezuela. Eine von ihnen ist eine bekannte Fernsehjournalistin geworden, eine andere Sprecherin eines Ministeriums. Untersuchungsrichter Bruguière hat sie nicht zu dem Prozeß geladen, weil er ihre Adressen nicht gefunden haben will. Die Verteidigung ihrerseits hat keinen einzigen Zeugen bestellt, weil sie den ganzen Prozeß für unrechtmäßig hält.
Der Mann, der zur Erhellung der Schießerei beitragen könnte, ist der bei der Schießerei schwerverletzte Polizist Jean Herranz. 1975 war er Chef der Antiterrorabteilung und Palästinaexperte der Spionageabwehr DST und führte seine beiden Kollegen sowie den Libanesen Michel Moukharbal in die Wohnung, wo sie erschossen wurden.
Laut Anklageakte wollte der DST die Geliebte des Libanesen treffen. Von Carlos, der im Juni 1975 bereits die Entführung eines französischen Botschafters in den Niederlanden, den Anschlag auf den britischen „Zionisten“ Joseph Eward Sieff, ein Bombenattentat auf die Pariser Boutique „Drugstore Saint Gérmain“ sowie zwei Anschläge auf israelische Flugzeuge in Paris organisiert hatte, will der DST laut Anklageakte nichts gewußt haben.
Dafür, daß die drei DST-Agenten ein Foto von Carlos dabei hatten, gibt es also keine Erklärung. Auch nicht darüber, was der Libanese, der zusammen mit Carlos Attentate in Europa organisiert hatte, im Verhör verraten hat. Unklar ist auch, warum die drei DSTler an dem Tatabend keine Waffen trugen. Und schließlich gibt der Prozeß auch keine Anwort auf die Frage, warum die DSTler Carlos' Tokarev-Pistole nicht gefunden haben, als sie ihn bei ihrer Ankunft abtasteten.
Die französischen Medien haben andere Sorgen als die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens. Ein Journalist im Gerichtssaal hält es für „gut möglich, daß die drei DSTler ein bißchen getrunken haben“. Ein anderer, daß sie „möglicherweise ihre Pistolen vergessen haben“. Viele weisen darauf hin, daß „Carlos selbst kein Interesse an einer korrekten Prozeßführung“ habe. „Carlos große Show“, steht in den Zeitungen.
Carlos ahnt vermutlich, daß dieser Prozeß sein letzter großer Auftritt vor einem langen Gefängnisaufenthalt ist. Er nutzt diese Möglichkeit zur Selbstdarstellung. Er übernimmt die „Verantwortung für sämtliche palästinensischen Aktionen in Europa“. „Mein Fall ist interessant“, verkündet Ilich Ramirez Sánchez.
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