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Wahrheiten in Serie

Darf man Fotos glauben? Der „Förderpreis Dokumentarfotografie“, vorgestellt im Frankfurter Kunstverein  ■ Von Martin Pesch

Dokumentarfotografie klingt irgendwie altmodisch – oder glaubt noch jemand an die Möglichkeit, die Fotografie könne etwas dokumentieren, etwas ohne Verfälschung zeigen? Die von den Nachrichtenagenturen angebotene und von der taz inzwischen übernommene Kennzeichnung elektronisch bearbeiteter Fotos mit einem „M“ ist nur ein aktueller Hinweis auf das schon lange schwelende Unbehagen gegenüber einer Fotografie, die vorgibt zu zeigen, was ist.

„Denn unumgänglich werden die Gegenstände durch den fotografischen Prozeß ästhetisch überformt (...)“, schrieb Reinhard Matz 1981, in einem grundlegenden, im Katalog dieser Ausstellung wiederveröffentlichten Essay zur Dokumentarfotografie. Was ist überhaupt dokumentarisch an der Dokumentarfotografie? Sollte man diesen Begriff nicht lieber ganz streichen, um nicht bei jeder Erwähnung ein ganzes Arsenal von Erläuterungen mitliefern zu müssen? In diesem Sinne meint Brigitte Werneburg, ebenfalls im Ausstellungskatalog, daß die Fotografie selbst Kriterien entwickeln muß, die das Dokumentarische an ihr – jenseits einer Diskussion um Reproduktion und Ästhetisierung der Realität – zeigen.

Diesen Anspruch im Hinterkopf hat die Wüstenrot Stiftung 1994 Förderpreise gestiftet, die der Dokumentarfotografie zu neuer Relevanz und Eigenständigkeit verhelfen sollen. Eine Jury beurteilt Abschlußarbeiten von Studierenden entsprechender Hochschulen, die zudem ein Konzept für ein geplantes Projekt einreichen müssen. Die vier PreisträgerInnen erhalten je 10.000 Mark, um das projektierte Vorhaben zu verwirklichen. Die Ergebnisse reisen daraufhin gemeinsam durch verschiedene Ausstellungshäuser, wobei man in schwäbischer Manier eher auf deren Solidität denn auf Renommee setzt.

Ein Merkmal der hier vorgestellten Dokumentarfotografie ist die Serie. Kein Einzelbild beansprucht für sich Gültigkeit, jedes Foto ist Teil eines nur im Gesamtzusammenhang zu sehenden Dokuments. Dies markiert die Grenze zwischen dem Bestreben, etwas als Ganzes, in seinem Facettenreichtum von allen Seiten abzubilden, und dem Bewußtsein, daß genau dies unmöglich ist und man unweigerlich nur Stückwerk abliefert, das im besten Fall im jeweiligen Betrachter ein Bild des Dargestellten, des Dokumentierten ergibt. Ein weiteres Merkmal ist, daß die hier vorgestellten Fotografen ihrer Gattung gegenüber viele Skrupel haben. Sie schrecken davor zurück, etwas über jetzige, aktuelle Zustände zu sagen. Vor der allgegenwärtigen, Aktualität heischenden und Zeitgeist bildenden Reportage-, Werbe- und Modefotogafie ziehen sie den Schwanz ein und verlegen sich aufs Erinnern.

Andreas Heddergott widmet sich den langsam zuwachsenden Trampelpfaden, die früher als Transport- und Nachrichtenwege über den St. Bernhard dienten. Thomas Wolf fotografiert die Anlagen, die im ostdeutschen Salz- und Kalibergbau inzwischen stillgelegt und abgerissen sind. Beide Fotografen präsentieren ihre Schwarzweißarbeiten sauber entwickelt und abgezogen im Passepartout und Rahmen. Auch mit dieser Präsentation erhöhen sie das Vergängliche einer Situation zum schmucken Museumsstück.

Auch Max Baumann sucht nach Erinnerung, allerdings in Farbe. Seine Abzüge füllen den Rahmen ganz aus, als wollte das Erinnerte darüber hinausschießen. Baumann fotografiert die Gegend seiner Herkunft: Wiesen, Kindergarten, Mauern. Alles ist im Anschnitt zu sehen, verdeckt oder en détail; tastend nähert sich der Fotograf einer Realität, die in seinem Gedächtnis vermutlich ganz anders aussah. Hier wird eher eine subjektive Herangehensweise dokumentiert, als daß die Fotos selbst als Dokument eines erfahrenen urbanen Raums gelten könnten. Heddergott, Wolf und Baumann – auch das ein Merkmal der hier gezeigten Dokumentarfotografie – kommen ohne Bilder von Menschen aus.

Das übernimmt Julia Sörgel. In ihrer Serie „Rasborska“ (Kraftprobe) versucht sie, sich dem Alltag deutschstämmiger Aussiedler aus Kasachstan anzunähern. Sie fotografiert sie in ihrer „neuen Heimat“ Brandenburg und konterkarierte diese Fotos mit einigen, die sie in deren „alter Heimat“, in Almaty und Karaganda machte.

Sörgel teilt ihren Blick mit dem der Menschen, deren Situation sie dokumentieren möchte. Zwischen dem aktuellen Hier und dem vergangenen Dort spannt sich ein Geflecht aus Hoffnung und Erinnerung. Die Trostlosigkeit der Bildsujets, die Traurigkeit der fotografierten Menschen werden durch die Präsentationsweise nicht als Dokument festgeschrieben, sondern in den leuchtenden Farben der Fotos im rahmenlosen Acrylhalter aufgehoben. Sörgels unprätentiöse und doch formbewußte Haltung gegenüber ihrem Thema läßt ihre Arbeit hier herausragen.

„Förderpreis Dokumentarfotografie“, Kunstverein Frankfurt am Main, bis 4.1.1998

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