Im Kreml herrscht der Familien-Clan

■ Verwandte und Freunde schirmen den russischen Präsidenten von der Außenwelt ab. Jelzins Tochter bestimmt, wer Zugang zum Präsidenten hat und wer vergeblich an der Kreml-Türe pocht

Die Umgangsformen im Kreml scheinen etwas legerer zu werden, seitdem Boris Jelzins Tochter – versehen mit einem offiziellen Amt – ihren Vater berät. Das kolportieren jedenfalls Gerüchte: Bald sei der Moment gekommen, daß Jelzin nur noch in Puschen durch den Kreml schlurft.

Die häusliche Atmosphäre hat sich aber nicht gleichermaßen entspannend auf das Reglement ausgewirkt. Tochter Tatjana Datschenko weicht nicht mehr von der Seite des Staatsoberhauptes, und keiner der den Kreml-Chef besuchen möchte, kommt an der resoluten Mathematikerin vorbei. Sie kontrolliert den Zugang zum Vater und hält fern, wen er nicht empfangen soll. Ob der Präsident einen repräsentablen Eindruck macht, entscheidet letztlich sie.

In den vergangenen Monaten tauchten eine Reihe neuer Gesichter in der Administration des Präsidenten auf, die Jelzins Tochter engagiert hat. Stellvertretende Leiterin der Präsidialkanzlei wurde vor kurzem Wiktoria Mitina, eine Freundin Tatjanas, die zuvor in der Stadtverwaltung eines Moskauer Vororts gearbeitet hatte. Sie zählt seit Jahren zum engeren Kreis der Familie. Zu Zeiten der Perestroika unterstützte sie Jelzin in seinem Kampf gegen die Hardliner in der KPdSU. Administrationschef Walentin Jumaschenko steht ebenfalls der Familie nahe. Journalist Jumaschenko ist der Ghostwriter aller Jelzin-Bücher und kennt die Eigenheiten seines Chefs aus dem Effeff.

Die Ausstaffierung des Kreml mit Verwandten und Bekannten läßt die Gerüchteküche unterdessen auf Hochtouren arbeiten: Womöglich ist es Aufgabe und Ziel des intimen Kreises, den Präsidenten von der Außenwelt abzuschirmen. Früher erledigten das die Paladine der KPdSU-Generalsekretäre, heute, da das System menschlicher geworden ist, darf das Oberhaupt wenigstens im Kreise seiner Familie ruhen.

Grund für die Spekulationen bieten die wunderlichen Verhaltensweisen, die Boris Jelzin in den vergangenen Wochen an den Tag legte. Besonders auf Auslandsvisiten, wo Tochter Tatjana das Zepter nicht alleine in der Hand hält, offenbarte der Kreml-Chef gewisse geistige Absenzen. Pressesprecher Jastrschembski war richtig gefordert, um das Image des Präsidenten zu retten. Während einer Staatsvisite in Schweden rüstete Boris Jelzin plötzlich einseitig ab, ohne daß seine Minister etwas von dem Friedensvorstoß gewußt hätten. Bald stellte sich heraus, daß die Initiative ohnehin weder Hand noch Fuß hatte. Die Übermüdung des Kreml-Chefs mußte als Entschuldigung herhalten. Desgleichen wurde eine Vertragsunterzeichnung verschoben, weil Jelzin sich schlecht fühlte.

Auf einem Treffen mit dem japanischen Staatspräsidenten siedelte er den Mann Nippons im Reich der Mitte an. Zu Gast bei Jiang Zemin in China unterdes schlug er die Einladung des Gastgebers aus, noch ein wenig zu bleiben: Er und sein Troß hätten nur für zwei Tage Marschverpflegung mitgebracht. Scherz oder Senilität? Oder von beidem etwas? Die Kreml-Ärzte werden es nicht herausposaunen und Tochter Tatjana alles dransetzen, die Wahrheit unter Verschluß zu halten.

Jelzin hatte des öfteren Phasen, in denen er geistig abwesend schien und dann plötzlich wieder quicklebendig auf die Bühne hüpfte. Anfang Dezember erschien er überraschend in der Staatsduma und appellierte an die widerspenstigen Abgeordneten, den Haushalt zu verabschieden. Er überzeugte sie, sein Auftritt ließ nichts von zerebraler Dysfunktion vermuten.

Am vorigen Wochenende, als er seine Stimme für die Moskauer Stadtparlamentswahlen abgab, glich er dem tattrigen Vorgänger Tschernenko, dessen Hand man an die Urnen führen mußte, während die Kameras den reichverzierten Deckenstuck abfuhren.

Herzchirurg de Bakey, der bei der Bypass-Operation des Präsidenten im vorigen Jahr dem russischen Ärzteteam assistierte, kommentierte Jelzins aktuelle Erkrankung: „Ich glaube nicht, daß er Probleme mit dem Herzen hat. Dann hätten sie ihn an einem anderen Ort behandelt.“ Offensichtlich wurde de Bakey inzwischen zu einem Experten auf dem Gebiet Kreml-Astrologie.