: A Talk with a Stranger
■ Die Welt ist ein Irrtum, sagen die Christlichen Wissenschaften / Darüber sollten Sie nachdenken / Besinnliches und Bewegendes zum heiligen Fest
Sie stehen am Zebrastreifen, irgendwo im „Viertel“. Es ist kalt, Sie sind sehr in Eile, womöglich mit den Gedanken noch ganz in der Spielzeugabteilung eines Kaufhauses. Weihnachtsstimmung halt.
Ein freundlich dreinblickender Herr, Anfang 50, Brillenträger, bekleidet mit einer graugrünen Cordhose und Strickpollunder, überquert vor Ihnen die Straße. Nicht nur das wäre ein Grund, Ihre akute Zeitnot zu ignorieren und weiterhin am Zebrastreifen stehenzubleiben. Aber eigentlich, eigentlich könnten Sie fahren. Ohne weiteres. Denn der freundliche Herr vor Ihrer Stoßstange ist bloß Heiko Knostmann. Und Heiko Knostmann existiert gar nicht. Er ist ein Irrtum.
Heiko Knostmann gibt es nicht
Sagt jedenfalls Mary Baker Eddy. Und der glaubt Heiko Knostmann jedes Wort. Sie ist, wie er es nennt, „meine Führerin“. Und diese Führerin erkannte, nachdem sie im Jahre 1866 in New Hampshire / USA hingefallen war, daß die gesamte Materie im Grunde eine große Illusion ist. Der Mensch ist reiner Geist, sagte Eddy, wie schon Jesus gelehrt habe, und Geister haben bekanntlich keinen Körper. Wo kein Körper ist, können auch keine schmerzhaften Prellungen sein. Also war Eddy gar nicht verletzt, strenggenommen nicht einmal gestürzt. Augenblicklich ward sie, die bis dahin dem Materieirrtum unterlegen war, gesund. Ein Wunder. Sie nannte ihre bahnbrechende heilende Einsicht „Christliche Wissenschaft“und daran glauben mittlerweile auf der ganzen Welt viele Millionen Menschen.
Menschen wie Heiko Knostmann. Der ist so sehr davon überzeugt, daß er sogar zum Bremer Assistenten des Christian Science Comitee für Veröffentlichungen geworden ist. Was aber an Eddys Visionen ist Wissenschaft? „Alles“, sagt Knostmann. Die Welt: Ein einziger Beweis für die überwältigenden Heilungserfolge der Christlichen Wissenschaft. Wer nur richtig guckt, dem wird Einsicht gegeben.
Kein Bein – kein Bruch
Ein einfaches Beispiel. Heiko Knostmann bricht sich das Bein. In der Regel flucht da der Mensch, schleppt sich zu seiner Hausärztin und humpelt anschließend in die nächstbeste Apotheke. Heiko Knostmann macht das nicht. Er flucht nicht, humpelt nicht in die Apotheke, geht auch nicht zur Hausärztin. „Mein Arzt ist Gott“, sagt Knostmann. Also setzt er sich in dessen Sprechzimmer – die Christliche Wissenschaftskirche Am Dobben 107 – und betet, daß ihm Gott die Einsicht ermöglichen solle, er – Heiko Knostmann – habe gar kein Bein. „Alles, was wir mit dem Auge sehen, ist“, weiß Knostmann, „ein Irrtum.“Also auch sein gebrochenes Bein. Wer kein Bein hat, dem kann es, wie schon Jesus und Eddy wußten, auch nicht brechen. Und danach ist alles wieder gut, wenn man nur fest genug daran glaubt und einen christlich-wissenschaftlichen „Ausüber“hat, der einen aus der Ferne per Gebet in der Kontaktaufnahme zum gütigen Herrn unterstützt. So geht das mit allen Irrtümerkrankheiten. Sagt nicht nur Knostmann. Sondern viele Menschen, die der christlichen Wissenchaft vertrauten und von ihr geheilt wurden. Von Beinbrüchen, Krebs, Altersleiden, Hautausschlag, Hirnschwund. Und dem ganzen Zeug. Steht seitenlang in „Wissenschaft und Gesundheit“, Eddys weisem Buch, daß allein in Amerika mehrere Millionen mal verkauft wurde. Diese Amerikaner.
Auch Heiko Knostmann wurde geheilt. Oft schon. Zuletzt von Nackenschmerzen. „Die haben, ich kann es menschlich sagen, höllisch geschmerzt.“Höllisch. Doppelt gemein. Aber eine Erinnerung daran, daß das, was da schmerzt, gar nicht existiert, half. Ganz himmlisch. „Ich habe alles verneint, und danach wurde wieder alles gut.“Wie simpel, und doch so kompliziert. Knostmann übt sich bereits seit 14 Jahren in der Kunst des Verneinens. Nicht immer mit Erfolg. „Das Verständnis, was geistiges Sehen ausmacht, habe ich z. B. noch nicht erreicht.“Das wird mit der Illusion einer eher tristen Kassenbrille bestraft. Sitzt mitten im Gesicht, die Illusion. Aber Knostmann arbeitet daran. Eines Tages, ist er sich sicher, braucht er die Brille nicht mehr. Nicht einmal seine Augen. Dann ist er ganz Geist, befreit von der lästigen Materie.
Erst kürzlich ist er wieder einen kleinen Schritt weitergekommen. Sein Weihnachtsverständniswar falsch. Knostmann dachte, Weihnachten sei für einen christlichen Wissenschaftler nicht von großer Bedeutung. Ein Irrtum, wie ihm ein genauer Blick in Eddys Schriften zeigte. „Vom geistigen Verständnis über Weihnachten bin ich anscheinend noch ein gehöriges Stück entfernt.“Im nächsten Jahr wird er das Fest mit ganz neuen Augen sehen. Vielleicht sogar ohne Brille.
„Aufstieg in der Erkenntnis“nennt Knostmann diesen mühsamen Weg bis hin zum schwerelosen Schweben über den schnöden Dingen. Warum aber hat sich Gott diese seltsame Konstruktion nur ausgedacht, das mit dem Irrtum und der Materie und so? Tja“, und ein listiges Lächeln huscht ihm über das Gesicht, „ das ist schon alles komisch so.“Komisch also – Gott, der Loriot am himmlischen Firmament? Eine, wenn man so will, geradezu göttliche Vorstellung.
Aber Gott sitzt gar nicht im Himmel. Er hat nicht einmal einen Bart. „Gott ist Liebe pur“, glaubt Knostmann. Und die Liebe, wenn sie rein ist, sie hat nicht einmal Stoppeln. Daß der weise Schöpfer hinter den Wolken sitzt: Auch so eine Illusion, verbreitet vom Amtschristentum. Ebenso wie das Priestertum, Kirchensteuern, Amtshierarchien, der Ausschluß von Frauen von religiösen Ämtern. Alles Quatsch, findet Knostmann. Ein kluger Herr.
Beim Sex, da trifft man sich hingegen wieder. „Sexualität“, sagt Knostmann im ökumenischen Geist, „sollte nur betätigt werden, um Kinder zu zeugen. Deshalb lehnen wir die Homosexualität auch ab.“Zu unproduktiv. Mindestens viermal hat der vierfache Vater die eigene Sexualität schon betätigt. Obwohl ihm vor langer Zeit ein Arzt mal – ein Jünger des Materialismus – diagnostiziert hat, er sei unfruchtbar. Unfruchtbar, und nun vier Kinder. Wieder ein Wunder. Wie bei Eddy, der Führerin.
Beim Sex trifft man sich im ökumenischen Geist
Aber im Grunde ist auch das eine Illusion – daß Kinder entstehen, wenn man die Sexualität betätigt. Sagt auch Knostmann. Eigentlich entstehen Kinder nur dadurch, weil die Eltern sie sich wünschen. Geburt und Tod: Auch sie nicht mehr als materielle Irrtümer. Niemand stirbt, niemand wird geboren. Alles ist Geist, endloser Geist. Endlos.
Ist letztlich aber sowieso egal. Denn die Fleischeslust, ob sie nun zu Kindern führt oder nicht, sie ist zu überwinden. Der Mensch, wenn er dereinst Geist ist, er hat keine Beine, keine Brille und auch keinen Sex. „Ich hoffe, daß ich die Sexualität bald hinter mir lassen kann“. Diese Konsequenz, mit der der materiellen Welt die Anerkennung verweigert wird, manchmal ist das richtig symphatisch.
Krankheit, Alter, Tod, Blähungen, Haarausfall – wer meint, daran zu leiden, dem kann geholfen werden. Alles eine Frage des richtigen Standpunkts. In den USA rechnen die Krankenkassen die preisgünstigen Heilmethoden der Christlichen Wissenschaft sogar ab. Jesus auf Krankenschein: So phantasievoll ist nicht einmal der christsoziale Gesundheitsminister Seehofer. Diese Amerikaner. Ein einziger Standortvorteil.
Zum Abschied schüttelten wir uns die Hand. Fühlte sich echt an, Guido Knostmanns Hand. War aber wohl nicht so. Eben alles eine Illusion. Wie Mary Baker Eddy bereits seit ihrem legendären Sturz wußte. Ihr Auto, der Zebrastreifen, Weihnachten, das Interview, der Händedruck, diese Zeitung – ein riesiger Irrtum.
Gut, daß wir das jetzt wissen. Man käme sonst noch auf ganz verrückte Gedanken. zott
Die Kirche der Christlichen Wissenschafter findet man Am Dobben 107. Öffnungszeiten u.ä. kann man unter
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