■ Trend: Das soziale Engagement der Deutschen ist groß. Allerdings tun sich die traditionellen Träger ehrenamtlicher Tätigkeit damit schwer
: „Ich für dich und mich“

Die Warnungen vor „Werteverfall und sozialer Bindungslosigkeit“ greifen um sich. Angesichts der vermeintlich zerstörerischen Wirkungen der Individualisierung verfallen nicht nur Konservative in Kulturpessimismus; auch einige gestandene Links-Alternative zeigen sich in ihrer Verzweiflung geneigt, die nachgeborenen Egomanen notfalls per Zwangsarbeit zur Solidarität zu zwingen.

Als ein Anzeichen für den schwächer werdenden Gemeinsinn gilt die vermeintliche Krise des Ehrenamts. PolitikerInnen und VerbändevertreterInnen haben sich deshalb fest entschlossen gegenzusteuern. An „Tagen des Ehrenamts“, in weihevollen Feierstunden und durch die Vergabe von Ehrennadeln soll den Ehrenamtlichen öffentliche Anerkennung zuteil werden. Durch Rituale dem „kulturellen Waldsterben“ Einhalt gebieten, so lautet die Devise der selbsternannten Hüter des Ehrenamtes.

Die heftige Angst vor der Auflösung aller Gemeinschaftsbindungen und dem Verschwinden der tätigen Solidarität steht in einem krassen Gegensatz zu den Ergebnissen der Sozialforschung. Deren Schätzungen zufolge engagieren sich mindestens 18 Prozent der erwachsenen BundesbürgerInnen freiwillig für andere, sei es im kulturellen, ökologischen, sportlichen, politischen oder sozialen Bereich – Tendenz steigend.

Warum dann die penetrante Litanei über die nachlassende Bereitschaft sich zu engagieren? Weil der Blick auf die Gesellschaft immer noch den Wahrnehmungsmustern von gestern folgt. Als Gradmesser für die soziale Teilhabe wird der vermeintliche Zustand traditioneller Solidarformen (Vereine, Verbände, Kirchen, Parteien, Familien) genommen. Als Anzeichen für die Bereitschaft zur Solidarität dient das Ausmaß an bekundeter Selbstlosigkeit und die Bereitschaft zur Selbstausbeutung. Doch diese nostalgisch verklärte Perspektive verhindert das Verständnis für die veränderten und neuen Solidaritäts- und Beteiligungsformen.

Aus dem „Ich für dich“ des traditionellen Ehrenamts ist ein „Ich für dich und mich“ geworden. Anderen zu helfen, um sich dabei selbst zu erfahren, und den Dienst für andere mit den eigenen Bedürfnissen nach Spaß, Selbstentfaltung und menschlichem Kontakt zu vereinbaren, das sind keine gegensätzlichen Wünsche mehr. Spätestens seit der Selbsthilfe- und der Alternativbewegung gilt, daß die neuen Ehrenamtlichen mit ihrem Engagement auch etwas für sich selbst erreichen wollen. Zugleich haben sich die Anforderungen an die Organisationsstrukturen gewandelt, in denen das Engagement stattfinden soll. Statt eherner Institutionen sind Zusammenschlüsse gefragt, in denen der einzelne zählt und etwas verändern kann. Initiativen, wie etwa Tauschringe, Tafeln für Arme, die Hospizbewegung oder Car-sharing, sind aktueller Ausdruck dieser mittlerweile über 30jährigen Entwicklung.

Die neuen Ehrenamtlichen sind vielfältig motiviert und anspruchsvoll. Etablierte Organisationen – die Platzhirsche des alten Ehrenamtes – schwanken zwischen Ignoranz und Fassungslosigkeit. So werden sich etwa Parteien, Kirchen und Wohlfahrtsverbände grundlegend ändern müssen, um neue Ehrenamtliche gewinnen zu können. Denn die Unterordnung, Selbstlosigkeit und bedingungslose Verfügbarkeit, die diese Organisationen von ihren Ehrenamtlichen erwarten, stehen im krassen Gegensatz zu den Erwartungen der Freiwilligen.

Gleichzeitig ist ein Paradigmenwechsel im staatlichen Umgang mit dem Ehrenamt erforderlich. Auf politische Appelle an die Selbstlosigkeit der BürgerInnen und die großzügige Austeilung von Tapferkeitsmedaillen kann verzichtet werden. Ehrenamtliche arbeiten nicht für Blech und gute Worte, sondern weil sie im Engagement eigene Interessen verfolgen. Staat und Kommunen sollten ihr Engagement vielmehr in der Förderung einer entsprechenden Infrastruktur zur konkreten Unterstützung von Ehrenamtlichen investieren.

Wenn – wie in Deutschland – die Engagementbereitschaft zwar hoch, die konkreten Betätigungsmöglichkeiten aber enttäuschend sind, besteht akuter Handlungsbedarf. Mit dem kulturellen Bedeutungsverlust traditioneller Weltanschauungsgemeinschaften und Großorganisationen fehlen die Agenturen, in denen Angebot und Nachfrage in Sachen Sozialengagement zusammenkommen können. Die unabhängigen Freiwilligenzentren, wie etwa in Bremen und Berlin, haben in letzter Zeit viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen und könnten solch ein Ort sein. Die Informations- und Beratungsleistungen, die sie anbieten, sowie ihre Ausrichtung auf eine breite Palette von Tätigkeitsfeldern, vom Kultur- über den Ökologie- bis hin zum Sozialbereich, machen sie nicht nur für die neuen Ehrenamtlichen zu geeigneten Ansprechpartnern.

In den zahlreicher werdenden Beiträgen zur „Bürgerarbeit“ und zum Engagement im „Dritten Sektor“ wird häufig so getan, als hätte man mit der Freiwilligenarbeit kurz vor Drucklegung soeben noch das „Ei des Kolumbus“ entdeckt. Tatsächlich aber ist selbstorganisiertes BürgerInnenengagement etwa in Selbsthilfegruppen, Frauenhäusern, Bürgerinitiativen und Kinderläden seit Jahrzehnten Alltagsrealität.

Trotz ihrer Schrittmacherfunktion und zahlenmäßigen Bedeutung kommen derartige Initiativen aber immer noch nicht als regulärer Kostenfaktor in öffentlichen Haushalten vor, sondern werden allenfalls als Störfaktor überlebter Verwaltungsroutinen angesehen. Jenseits öffentlicher Belobigungen ist es erforderlich, daß selbstorganisierte Initiativen auch in politischen Entscheidungsgremien und bei der Vergabe öffentlicher Aufträge berücksichtigt werden. Ihre Gleichstellung gegenüber etablierten Verbänden und privatgewerblichen Anbietern ist überfällig.

Reformblockaden allerorten: Die Engagementbereitschaft ist hoch, aber viele etablierte Organisationen zeigen sich den „wilden Neuen“ gegenüber zugeknöpft. Gleichzeitig bestehen aber seit Jahren neue Organisationsformen freiwilligen Sozialengagements. Ist das Engagement dieser neuen Ehrenamtlichen tatsächlich politisch gewollt, so wird man künftig schon mehr als nur gute Worte investieren müssen – das Sozialkapital braucht gedeihliche Standortbedingungen. Holger Backhaus-Maul/

Andreas Brandhorst