■ Silvester 1: Noch 79 Tage bis zum Frühling. Zeit, an das eine oder andere zu denken
Letztes Jahr gab es die Geschichte von den schwulen Engländern, die an Silvester gegen Mitternacht auf den Teufelsberg gewandert sind, aber kaum wieder herunterkamen vor lauter Schwindeligsein und Kotzen, weil sie vorher ahnungslos Haschplätzchen verzehrt hatten. Mal seh'n, was dieses Jahr passiert. Vielleicht hat man Gelegenheit, bevor es ernst wird, vorm Sektrülpsen und Küßchen verteilen, wenn man das Haus nicht überhaupt erst im neuen Jahr verläßt, an das eine oder andere zu denken. An das schöne Video von DJ Hell zum Beispiel, in dem er tagsüber Eierverkäufer ist und nachts mit seinem Plattenkoffer im Taxi durch die Stadt fährt. Von Shell sieht man nur ein leuchtendes Hell, und schließlich ist er in einem kleinen Club wie nach einer langen Reise glücklich angekommen.
Oder an den Penner in fortgeschrittenem Pennerstadium neulich in der U-Bahn. Ein Unberührbarer in einer raumübergreifenden Stinkeglocke. Aber mit einem Mal holt er ein Tic-Tac für frischen Atem aus seiner Hosentasche. Dann noch eins. Was geht in dem Mann vor? Hat er einen Termin bei seiner Lieblingssozialarbeiterin, strebt er gar einer neuen Bekanntschaft entgegen? Oder möchte er bloß dem Dauerzustand des sich Schämens auf eine Weise, wie es sie rührseliger nicht mal bei Dickens gibt, ein bißchen abhelfen?
Um 12 Uhr rausschauen, wie die anderen sich pyromanisch austoben. Das war einmal im Osten besonders eindrucksvoll, weil dort eine ganze Hausgemeinschaft verschworen und mit vorher nie gesehener Ernsthaftigkeit ein unglaubliches Vermögen in die Luft jagte. Und ein bei minus 18 Grad in Strumpfhosen und dünnem Anorak bibberndes Mädchen war partout nicht von der Front wegzukriegen.
Man könnte zum Jahresabschluß auch ein Gedicht schreiben. Es sollten gute Sachen drinstehen, aber es müßte trotzdem leichtfüßig sein und ohne ironisches Beizwinkern. Das wäre außerordentlich. Nun endlich raus. Wahrscheinlich ist es schon so spät, daß einem nur noch sporadisch ein Kracher hinterhergeworfen wird und man auf der Straße durch ein Meer von Feuerwerksresten watet. Der Weg könnte ins Discount führen, wo in der Silvesternacht unter anderem Disko auflegt und es bestimmt supertoll wird. Katrin Schings
So macht man Silvester! Foto: Reuters
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