: Die Lametta-Frage
Weihnachtsbaumschmuck im Puff und was anderswo darunter verstanden wird. Von Lametta in der Reizwäsche, Bleilametta aus dem Intershop, Lametta vorm Bombenangriff oder Lamettatränen ■ Von Helmut Höge
550 Bordelle gibt es in Berlin: so viele wie Banken in Frankfurt. Am meisten haben die Frauen hier während der Grünen Woche und über Weihnachten zu tun. Im Frühjahr kommen die unternehmungslustigen Landwirte, zum Jahresende treibt es sogar an Land vereinsamte Seeleute von der Küste in die Hauptstadt: „Die sitzen dann an der Theke, besaufen sich und fangen an zu heulen – beim ersten Weihnachtslied“, so die Garderobiere Jeanine. Die meisten Gäste sind allerdings allein in Berlin lebende Männer, denen an den Feiertagen die Decke in ihrer Wohnung auf den Kopf gefallen ist. „Man gönnt sich ja sonst nichts“, sagen sie oder auch – fast entschuldigend: „Ich habe nicht mal mehr einen Weihnachtsbaum zu Hause, für mich alleine bringt das nichts!“
In der Neuköllner Texas-Bar ist dagegen alles festlich geschmückt. Sogar die Mädchen haben sich für Heiligabend herausgeputzt – und zum Beispiel einige Lamettafäden in ihre neue Reizwäsche gestopft. Die „Russinnen“ erzählen, wie sie „früher“ Weihnachten feierten. Vera, Ljuba und Nadjeschda (zu Deutsch: Glaube, Liebe, Hoffnung) kommen aus Workuta und machen neben der Arbeit in der Bar noch – als „sibirische Modelle“ – Haus-, Hof- und Hotelbesuche. Die drei sind hier ordentlich verheiratet. Aber Vera und Ljuba müssen dafür noch „viel Geld“ abzahlen. Nadja dagegen, die es, „obwohl keine Studierte, ganz alleine hierhergeschafft“ hat, muß für ihren Sohn zu Hause aufkommen: „Meine Mafia ist mein Kind!“
Da in Rußland immer noch der Gregorianische Kalender gilt, wird das Jolkafest dort 13 Tage später gefeiert, und so können die Frauen hier noch schnell „das Weihnachtsgeschäft“ mitnehmen und anschließend „problemlos“ in Workuta Weihnachten feiern. Das muß auch so sein: „Denn wir brauchen das Geld dringend, zum Beispiel für Geschenke!“ Diese kommen, wenn es irgendwie geht, an den Tannenbaum, denn in Rußland wird der Weihnachtsbaum mit allem möglichen vollgehängt: „Es muß richtig krachen! Sterne, Kugeln, Gebäck, auch Lametta und Uhren.“ Uhren?! Die ganze Theke lacht über diesen anscheinend immer noch lebendigen russischen Uhrtick.
„Was habt ihr denn gegen Uhren?“ fragt Ljuba, nimmt ihre Armbanduhr ab („800 De-Mark hat die gekostet!“) und geht zu Dängs kleinem buddhistischen Hausaltar, der über dem Spielautomaten hängt. Däng hat dort ihre das Geld hereinwinkende Nang-Goag-Hin-Leu-Statue mit goldenen und silbernen Lamettagirlanden geschmückt und zwischen die Räucherstäbchen noch kleine rote Lametta- Quirls gesteckt. Sie werden über Weihnachten auch zum Piccolo serviert. Die Frauen benutzen sie, um – „magenschonend“ – die Kohlensäure aus dem Billigsekt rauszurühren. Ljuba knotet ihre goldene Uhr an Dängs Altar-Lametta und tritt prüfend zurück: „Sieht doch gut aus?!“ Es sieht wirklich schmuck aus, das muß auch die nichtchristliche Däng zugeben, die jedoch jeder Festdekoration etwas abgewinnen kann, wenn sie nur teuer genug war und liebevoll arrangiert wurde.
Karin, die schon etwas ältere Bardame (sie arbeitete über zwanzig Jahre bei einem Familienzirkusunternehmen) meint: „So 'ne kostbare Uhr würde ich da aber nicht hängen lassen. Früher haben wir bei uns zu Hause übrigens auch immer nur das teuerste Lametta verwendet: das schwere. Nach dem Fest, nach Neujahr, wurde es zusammen mit den Kugeln und der gläsernen Baumspitze eingepackt und kam wieder auf den Dachboden.“
Ein bisher schweigsam gebliebener Gast am Ende der Theke outet sich daraufhin als Ostler: „Bei uns gab's das Bleilametta, so hieß das, nur im Intershop. Wer keine Devisen hatte, kaufte Alu-Lametta. Dessen EVP – Einzelhandelsverkaufspreis – lag zuletzt bei 18 Pfennig pro Tüte, es hing aber wie Sauerkraut im Baum. Mein geiziger Vater hat bis zuletzt, er ging 84 in Rente, immer in seinem Betrieb – das Werk für Fernsehelektronik – die Schnipsel aus den Lochern in den Büros eingesammelt und als Silvesterkonfetti mit nach Hause genommen. Als Toilettenpapier benutzten wir – sogar noch bis zur Wende – das Durchschlagspapier aus dem WF, das er sauber geviertelt hatte. Bleilametta hatten wir ganz früher auch mal: Von seiner Schwester, unserer Tante Trudi, die im Westen wohnte. Das wurde einzeln aufgehängt und auch wieder so verpackt, das kam nie mit Ostlametta in Berührung. Später brachte uns Tante Trudi Alufolie auf Papprollen mit, das gab's bei uns auch nicht. Ebensowenig Reißwölfe in den Büros – die hatte nur die NVA und die Stasi. Deswegen haben sich die Ostfirmen dann auch 90/91 als erstes alle einen Aktenvernichter zugelegt.
Mein pfiffiger Vater ist gleich nach der Währungsunion, als man alles kaufen konnte, mit Tante Trudis letzter – nun quasi entwerteter – West-Alufolie in seinen früheren Betrieb gerannt und hat sich dort am neuen Schredder sein Lametta selber gemacht. Sah aber auch aus wie Sauerkraut! Außerdem war das Lametta – zwar teurer geworden, aber nicht mehr knapp. Alu war ja ein begehrter Rohstoff in der DDR gewesen, so daß wir zum Beispiel die Tannenbäume in der Schule immer nur mit Wattetupfer – als Schneeflöckchen – schmücken durften.
Ich habe dennoch in den letzten DDR-Jahren bei mir zu Hause das Lametta nicht mehr aufgehoben, sondern es immer mit dem Baum zusammen nach Neujahr weggeschmissen. Soll ja angeblich ökologisch nicht gut sein. Deswegen gibt es seit einigen Jahren auch kein Bleilametta mehr im Westen. Jetzt habe ich mir zum ersten Mal schwedische Glaskugeln gekauft und eine Ganzumspannung für meinen kleinen Tischbaum. Es sollte wie Engelshaar wirken: Tut es aber nicht! – Wie halten Sie es denn mit dem Baumschmuck? Sie sind doch bestimmt aus dem Westen...“
Der Ostler meinte mich. „Ich wollte früher ebenfalls immer Lametta im Baum haben, dazu bunte Kugeln, Glühbirnengirlanden et cetera. Das ganze Angebot aus den Kaufhäusern eben. Aber meine Künstler-Eltern fanden das alles spießig, zu unkünstlerisch – und schmückten den Baum statt dessen mit roten, polierten Äpfeln, kleinen selbstgeschnitzten und selbstbemalten Holzfiguren, Spekulatius, Strohsternen, Stearinkerzen und so was.“
„Das sah aber doch bestimmt auch schön aus“, meinte Olga, die gerade mit einem älteren Kunden aus einem der Zimmer hinten zurückgekommen war und mit dem Mann wieder an der Theke Platz genommen hatte. Olga kommt aus Kiew und hat dort früher als Friseuse gearbeitet. Mit ihr, die Mitte 1995 hier anfing – in der Texas- Bar, zu der noch drei weitere Etablissements gehören, zwischen denen die Mädchen „rotieren“ –, hatten die Russinnen erstmalig die Thai- und Polen- majorität im Laden gekippt. Jetzt arbeiteten nur noch Däng aus Thailand und Ewa aus Polen dort, alle anderen „Mädchen“, etwa zwanzig, kamen aus der Sowjetunion, weswegen sie sich immer mehr spezifizierten – und als „baltische“, „kaukasische“, „Schwarzmeer-“ usw. „Modelle“ annoncieren ließen. Außerdem wurden ihre Gastspiele hier immer kürzer. Nur Karin aus Schöneberg blieb dieselbe und an Ort und Stelle – hinter der Theke.
Während Olga ihre Lamettafäden am Oberteil zurechtzupfte, hatte Karin die Reste des Weihnachtsschmucks, den sie für die Bar eingekauft hatte, wiedergefunden, das heißt die halbleeren Verpackungen: „Es gibt jetzt drei verschiedene Sorten Lametta auf den Weihnachtsmärkten – im Handel. Hier, Olga, kannst dich aufhübschen! Mit Brillant Eislametta, Thüringer Weinachtsbaumschmuck oder Qualitäts-Stanniol- Lametta – in drei Farben: silber, gold und metalliclau. Das ist das Beste!“
„Wieso das denn?“ fragte Olgas Freier. „Weil es draufsteht“, antwortete Karin und schenkte ihm einen Piccolo ein. „Nein, metallicblau ist eine Geschmacksverirrung bei Lametta. Außerdem: das beste Lametta kennt ihr ja überhaupt nicht, weil ihr dafür zu jung seid.“ Er blickte sich im Laden um. „Ich rede jetzt nicht von den Rangabzeichen und Orden der Wehrmachtsoffiziere, die man früher auch Lametta nannte.“ Und zu Olga gewandt: „Für Teilnehmer am Rußlandfeldzug gab's im Zweiten Weltkrieg sogar eine spezielle Auszeichnung, den Gefrierfleischorden – so wurde der genannt...“ „Prost, darauf trinken wir doch prompt einen“, sagte Olga.
„Das beste Lametta war aber was anderes: Ihr habt vielleicht mal davon gehört, daß die Alliierten über den Städten, bevor sie die Bomben abwarfen, ihre Ziele mit sogenannten Christbäumen markierten. Das waren Leuchtkerzen, die von weitem wie brennende Weihnachtsbäume aussahen. Unsere verwendeten dagegen – zur Abwehr der Bomber – neben der Flak noch Lametta, das waren Wolken aus abgeworfenen Stanniolpapierschnipseln, die das gegnerische Radar verwirren sollten.“
„Und was soll daran so gut sein?“ fragte Olga. „Moment. Wer die Bombenangriffe überlebt hatte, sammelte das Lametta am nächsten Tag ein. Es lag überall rum und wurde dann als Baumschmuck verwendet: Weihnachten 1944, und sogar noch 45. Damals hat man ja alle möglichen Kriegsmaterialien friedensmäßig umfunktioniert. Konversion nennt man das heute.“
Der Ostler bestellte zwei neue Piccolo für Däng und sich und meinte dann: „Das stimmt nicht. Die alliierten Bomber hatten damals gar keinen Radar. Sie waren es aber, die das Lametta abwarfen, um damit die deutschen Radaranlagen außer Kraft zu setzen! Das funktionierte nur mangelhaft, aber als Weihnachtsbaumschmuck taugte das Lametta anschließend schon, das ist richtig!“
„Woher wollen Sie das denn wissen? Sie können doch gar nicht dabeigewesen sein!“ entgegnete der Alte. „Mein Vater hat es mir erzählt, außerdem habe ich es in vielen Büchern über den Zweiten Weltkrieg gelesen.“ „Bücher! – und dann wahrscheinlich noch aus der DDR, die lügen doch alle, gerade was den Krieg betrifft. Nein, nein, ich bleibe dabei, das war deutsches Lametta!“ „Kinder streitet euch nicht“, warf Karin ein und gab Nadja, die neben mir stand, fünf Mark, um Musik zu drücken. „Heute ist Weihnachten“, meinte Nadja, „da kann ich doch auch selber mal ein paar Jolkafestlieder singen. Soll ich?“ Erst mal wollte auch ich noch meinen Senf zum Lametta dazugeben: „Meines Wissens war das kleingeschnittene Silberfolie und die wurde von den Alliierten abgeworfen. Die Deutschen besaßen so etwas ab 43 gar nicht mehr. Neben dem Lametta-Aufsammeln war übrigens auch das Bombensplitter- Suchen damals sehr beliebt: als Andenken an die Luftkämpfe, die dann ebenfalls in den Weihnachtsbaum gehängt wurden.“
„Das haben Sie wohl auch aus Büchern?! unkte der Alte und blieb bei seiner Meinung. Nadja fing leise an, ein Weihnachtslied zu singen, die anderen drei „Russinnen“ stimmten ein, schließlich sogar die „Polin“ Ewa. Die fünf Frauen hatten das ganze Repertoire drauf. Es waren dieselben Lieder, die man auch in Deutschland zu Weihnachten singt. Später gingen sie zu Adaptionen neuerer Madonna-Songs über, obwohl keine von ihnen Englisch konnte. Karin bemerkte zufrieden: „Gut, daß dies Jahr keine Seeleute da sind, die würden uns die ganze Stimmung versauen!“ Olga lachte: „Genau wie bei uns! In Odessa und Sebastopol, wo die Schwarzmeerflotte liegt, ist die Stimmung unter den Matrosen auch immer furchtbar depressiv über Weihnachten. Seeleute sind Muttersöhnchen und so sentimental. Man sagt deswegen, wenn jemand wegen Nichts weint: ,Spar dir deine Lamettatränen!‘“
Eine Gruppe gutgelaunter Türken kam herein, von denen einer, so viel ich wußte, der Barbesitzer war. Als Olga sich zu ihnen gesellte, entschloß sich der alte Freier, aufzubrechen. Ljuba half ihm in den Mantel. Beim Abschied sagte er: „Ich werde auf jeden Fall die Lametta-Frage klären – bis zum nächsten Mal. Sie haben mich unsicher gemacht. Bitte bemühen Sie sich ebenfalls, meine Herren, vielleicht treffen wir uns ja noch mal... Frohes Fest alle zusammen!“
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