piwik no script img

Die gehörlose Armee Von Ralf Sotscheck

Kann eine gesamte Armee über Nacht taub werden? Die irische schon. Es fing damit an, daß ein Soldat schwerhörig wurde. Er vermutete, das sei eine Spätfolge seiner Schießübungen im Dienste der Nation. Sein Anwalt vermutete das auch, und der Richter ebenfalls. Der Soldat kassierte umgerechnet 65.000 Mark Entschädigung. Kaum war der Fall bekannt, da erlitt fast das ganze Heer einen kollektiven Hörsturz. Von den 12.000 Berufssoldaten zogen mehr als 10.000 vor Gericht.

Als sie in die Armee eintraten, hatten sie offenbar nicht damit gerechnet, irgendwann mal schießen zu müssen. Meistens werden sie auch zur Bewachung von Geldtransporten eingesetzt, nur fünf Stunden im Jahr sind sie in Gefechtsübungen mit scharfer Munition. Und das ist schlecht für die Ohren. So rollt nun „ein riesiger Laster ohne Bremsen den Berg hinunter und droht den Steuerzahler zu überfahren“, stellte Verteidigungsminister Michael Smith fest. Nur wenige Klagen werden abgewiesen. Ein Soldat, der während seiner militärischen Laufbahn nicht einen einzigen Schuß abgefeuert hatte, ging leer aus, ebenso wie ein Journalist, der über das Leben in der Armee berichten wollte und bei Schießübungen zugeschaut hatte.

In den Richtlinien der Armee heißt es seit 1952, daß Soldaten Gehörschutz tragen sollen, wenn sie selber schießen oder neben einem Panzer stehen, der Granaten abfeuert. Wer wollte, konnte sich auf Staatskosten Wattebäusche besorgen. Später genehmigte man auch noch ein Töpfchen Vaseline, mit der die Watte getränkt werden sollte. Die Soldaten hörten nun zwar keine Schüsse mehr, aber auch nicht die Befehle ihrer Vorgesetzten. Die mußten sich schriftlich Gehör verschaffen. Als in den achtziger Jahren neue Ohrenstöpsel mit einem Ventil auf den Markt kamen, das sich erst bei lauten Geräuschen verschließt, winkte das Verteidigungsministerium ab: zu teuer. Nun wird es noch teurer.

Vier Anwaltsfirmen vertreten zusammen 3.000 schwerhörige Soldaten. Jeder Fall bringt dem Anwalt umgerechnet rund 20.000 Mark ein. Macht summa summarum 60 Millionen. Da die Fälle sich kaum unterscheiden, jedoch einzeln verhandelt werden, kann man die Klageschriften praktischerweise fotokopieren – die Armee wird für Irland so zu einem kostspieligen Hobby. Zur Landesverteidigung würden die paar Soldaten auch dann nicht taugen, wenn sie hören könnten. Feindberührung kennen sie nur aus ihren Einsätzen bei UN-Missionen. Das hat einen Soldaten, der bei der Gehörlosenbonanza nicht absahnen konnte, auf einen Alternativplan gebracht. Er verklagte die Armee, weil sie keine Sonnenschutzcreme an die UN-Truppen im Libanon verteilt hatte. Der Soldat hatte sich einen Sonnenbrand in Sachen Frieden geholt. Nun ist die zweite Prozeßlawine ins Rollen gekommen – aber wohl nicht die letzte. Die Möglichkeiten sind nahezu unbegrenzt: Man kann wegen Haarausfalls aufgrund stundenlangen Helmtragens klagen, wegen Schweißfüßen aufgrund mangelhaft belüfteter Knobelbecher, oder wegen Sand in den Socken bei UN- Einsätzen in der Wüste.

Aus Sicherheitsgründen hat das Verteidigungsministerium jetzt Holzgewehre und Pappschilder verteilen lassen, auf denen steht: „Peng!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen