: Wo bleibt Anatoli Karpow?
In der dramatischen zweiten Partie der FIDE-WM im Schach nützt Herausforderer Viswanathan Anand die Zeitnot des Titelverteidigers zum 1:1-Ausgleich ■ Aus Lausanne Hartmut Metz
In einer der dramatischsten Partien in der 111 Jahre alten Geschichte von Schach-Weltmeisterschaften glich Viswanathan Anand am Samstag in Lausanne den 0:1-Rückstand gegen Titelverteidiger Anatoli Karpow aus. Der zweite von sechs Spieltagen im Olympischen Museum begann jedoch mit Peinlichkeiten für den FIDE-Präsidenten. Daß Juan Antonio Samaranch nicht viel vom königlichen Spiel versteht, mag Kirsan Iljumschinow noch verkraftet haben. „Das ist ja wie gestern“, wollte der Hausherr vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) freundlich sein Interesse bekunden, als Anand den ersten Zug aufs Brett warf. Doch knapp vorbei – der 28jährige Großmeister hatte seinen Königsbauern von e2 nach e4 vorgestoßen. Tags zuvor hatte Samaranch bei der Eröffnung für Karpow den ersten Zug ausgeführt und dabei den weißen Damenbauern nach vorne gespielt. Geduldig erklärte Iljumschinow dem mächtigsten Sportführer der Erde den Unterschied.
Weit unangenehmer wurde dem Präsidenten der russischen Republik Kalmückien das Warten auf Anatoli Karpow, der es nicht für nötig hielt, gleich nach Anands Eröffnung zu erscheinen. Nach zwei Minuten war es der Inder leid, auf den Begrüßungshandschlag des FIDE-Weltmeisters zu warten und zog sich in den Ruheraum zurück. Nach drei Minuten rutschte Samaranch unruhig auf seinem Sitz umher, ehe er die ihn quälende Frage ausspuckte: „Ist das normal, daß die Spieler später kommen?“ Der IOC-Präsident mag sich in diesem Moment einen olympischen 100-Meter-Sprint vorgestellt haben, bei dem Donovan Bailey später eintrifft und Frankie Fredericks schon einmal vorlaufen läßt. Hastig zitierte Iljumschinow mit gezwungenem Lächeln einen Vasallen herbei. „Wo bleibt Karpow?“ wollte er wissen. Der Maestro, der selten ein Muster an Pünktlichkeit ist und schon einmal den Mittag verschläft, traf dann doch endlich ein.
Immerhin schmiß auch er den e- Bauern zwei Felder nach vorne, so daß sich die Spanische Eröffnung entwickelte. Den Frevel – die vom IOC wohlwollend aufgenommenen Bemühungen der FIDE, olympische Sportart zu werden, durch Nachlässigkeit zu torpedieren – rächte Schachgöttin Caissa. In der entscheidenden Phase der zweiten Partie fehlten Karpow die vergeudeten Minuten Bedenkzeit. Zunächst riskierten beide Seiten sehr viel. Der Weltmeister opferte einen Turm für einen Springer und einen Bauern, nachdem er zuvor einfach einen Aufbau kopiert hatte, den Anand erst vor zwei Monaten erfolgreich in Belgrad gegen den Jugoslawen Kovacevic angewandt hatte. Anschließend vermieden beide Züge, die vermutlich zu einem Remis geführt hätten. Der Inder wollte gewinnen, um die Last des Rückstands abzustreifen; Karpow suchte die Vorentscheidung durch das 2:0. Im 34. Zug spitzte sich die Lage zu. Auf dem Höhepunkt der Spannung blieben Anand nur 33 Sekunden Bedenkzeit übrig, dem Russen erging es nicht viel besser. Bis zu diesem Zeitpunkt spielte der Titelverteidiger forsch und hätte mit einem Springerschach nebst einem ungewöhnlichen Damenrückzug die Ernte einfahren können.
Doch die drei fehlenden Minuten machten sich nun unangenehm bemerkbar. In Zeitnot brach bei Karpow sein vorsichtiges Naturell durch. Er verschaffte sich mit einem Bauernzug nur ein Schlupfloch für den eigenen König, anstatt die feindliche Finte mit einem sofortigen Gegenangriff zu parieren. Danach gab der „Tiger von Madras“ die Beute nicht mehr her. Karpow konnte das Matt nur durch Aufgabe im 42. Zug verhindern. „Wir haben bestimmt nicht immer die besten Züge gespielt, aber die Figuren flogen so übers Brett, daß man nicht alles richtig machen konnte“, kommentierte der glückliche Herausforderer seinen Sieg in der äußerst spannungsgeladenen Partie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen