: Kohl gibt auf: Arbeitslosigkeit steigt
■ Trotz milden Winterwetters sind in Deutschland jetzt 4,52 Millionen ohne Arbeitsplatz. Kanzler Kohl glaubt nicht mehr an Halbierung der Quote bis zum Jahr 2000. Schere zwischen West und Ost klafft immer weiter auseinander
Nürnberg (taz) – Mit einem neuen Arbeitslosenrekord beginnt das Jahr der Bundestagswahl. 4.521.583 waren im Dezember als arbeitslos gemeldet, so viele waren es in einem Dezember seit Kriegsende noch nie. Insbesondere die Talfahrt im Osten sorgte für einen Anstieg der gesamtdeutschen Arbeitslosenquote auf nunmehr 11,8 Prozent. Bundeskanzler Helmut Kohl räumte daraufhin erstmals öffentlich ein, daß sein Ziel, die Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2.000 zu halbieren, „sicher nicht“ mehr zu erreichen sei. Man könne jedoch mit einem „leichten Sinken“ der Quote rechnen.
Der Präsident der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, Bernhard Jagoda, der in den letzten Monaten stets von einem „allmählichen Erreichen der Talsohle“ gesprochen hatte, will sich angesichts der aktuellen Daten nun nicht mehr festlegen, wann es eine Trendwende auf dem Arbeitsmarkt geben könnte. So sind derzeit bei den Arbeitsämtern 373.000 Arbeitslose mehr gemeldet als ein Jahr zuvor. Seit November nahm die Arbeitslosigkeit trotz des äußerst milden Wetters um 199.000 zu. Zieht man die übliche saisonale Steigerung im Winter ab, bleibt immer noch ein monatlicher Anstieg von 20.000. Besonders im Osten galoppierten die Zahlen im letzten Jahr davon. Lagen sie im Januar 1997 „nur“ um 12 Prozent über dem Vorjahr, waren es Ende Dezember 23 Prozent. Knapp 1,46 Millionen Menschen ohne Job bedeuten in den neuen Ländern eine Arbeitslosenquote von 19,4 Prozent. Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt haben die 20-Prozent-Marke bereits übersprungen.
„Die Schere zwischen den alten und den neuen Ländern hat sich weiter geöffnet“, resümierte Jagoda. Das lag auch an den Kürzungen bei Umschulungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Entlastung des Arbeitsmarkts durch solche Instrumente ging im Westen um 100.000, in Osten jedoch um 200.000 zurück. Seine Negativzahlen verknüpfte Jagoda mit der Feststellung, daß „1997 für die Wirtschaft kein schlechtes Jahr“ gewesen sei, nur profitiere der Arbeitsmarkt „zuwenig von der konjunkturellen Belebung“. Besonders die Bauwirtschaft liegt weiter am Boden, und das trifft den Osten hart. Der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie prognostizierte für 1998 einen weiteren Rückgang der Beschäftigten um 100.000.
Die von Wirtschaftsminister Günter Rexrodt Ende November ins Spiel gebrachte und danach eilig zurückgezogene Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen in diesem Winter rückt damit in greifbare Nähe. Vor einem Jahr kletterten die Arbeitslosenzahlen von Ende Dezember 1996 bis Ende Februar 1997 von damals 4,15 Millionen auf den bisherigen Höchststand von 4,67 Millionen. Eine Steigerung also um 520.000. Jetzt geht der Arbeitsmarkt mit 4,52 Millionen in den Winter.
Während der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Rudolf Scharping, von einem „schrecklichen Nachkriegsrekord“ sprach, gab Regierungssprecher Peter Hausmann seine Hoffnung kund, daß der Aufschwung „den Arbeitsmarkt – wenn auch nicht mehr so schnell wie früher – entlasten werde“. Die Nationale Armutskonferenz forderte die Arbeitslosen dazu auf, sich nach französischem Vorbild besser zu organisieren. Die Betroffenen müßten ihre Interessen selbst vertreten. Bernd Siegler Tagesthema Seite 3, siehe auch Seiten 4 und 12
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